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Ermittlungsverfahren gegen Testzentren

Bundesweit laufen mindestens 94 Ermittlungsverfahren gegen Betreiber von Corona-Testzentren, ergab eine Umfrage von und SZ bei Justizministerien und Staatsanwaltschaften. Fast immer geht es um Falschabrechnung.

Seit März hat jeder und jede in Deutschland Anspruch auf einen kostenfreien Antigen-Schnelltest in der Woche. Der Bund gab dafür bisher mehrere Milliarden Euro aus. Nachdem eine Recherche von NDR, WDR und "Süddeutscher Zeitung" (SZ) im Mai Hinweise auf falsche Meldungszahlen bei einem Schnelltest-Betreiber veröffentlicht hatten, nahmen Ermittler bundesweit Testzentren ins Visier.


Eine Umfrage unter Landesjustizministerien und örtlichen Staatsanwaltschaften ergab nun, dass derzeit mindestens 94 Ermittlungsverfahren laufen. Die tatsächliche Zahl dürfte höher liegen, da mehrere Länder wie Sachsen-Anhalt, Hamburg oder Niedersachsen nur unvollständige Informationen zur Verfügung stellten.


Nur in Berlin wurde flächendeckend überprüft

Besonders viele Ermittlungsverfahren sind bei der Berliner Staatsanwaltschaft anhängig. In 60 Fällen wird dort gegen Betreiber von Testzentren ermittelt. Die meisten davon betreiben nur eine oder wenige Teststellen, berichtet Martin Steltner von der Berliner Staatsanwaltschaft.


Ein Grund für die hohe Zahl: In Berlin führten die Ermittlungsbehörden als einziges Bundesland eine flächendeckende Überprüfung der Teststellen durch. So wurden bis Anfang dieser Woche insgesamt mehr als 400 Teststellen überprüft, wie die Polizei auf Anfrage mitteilte.


Auslöser waren nach Angaben der Staatsanwaltschaft "Unregelmäßigkeiten" im Bezirk Neukölln. Die Behörden vermuteten hier zunächst einen Zusammenhang mit sogenannter "Clankriminalität". Bei den laufenden Ermittlungen habe sich allerdings gezeigt, dass dieser Zusammenhang nur ein Einzelphänomen sei, sagt Steltner. Der Abrechnungsbetrug sei ein viel breiteres Phänomen, denn: "Gelegenheit macht Diebe."


Fehlende Kontrollen

Die Gelegenheiten schaffte das Gesundheitsministerium von CDU-Politiker Jens Spahn. Denn in der ersten Corona-Testverordnung vom März waren keine Kontrollmechanismen für die Abrechnung der Schnelltests vorgesehen. Die Betreiber mussten lediglich die nackte Zahl der durchgeführten Tests ohne irgendwelche Nachweise an die Behörden übermitteln. Sie mussten einzig und allein die Testnachweise über mehrere Jahre aufheben. Die Verordnung ermöglichte es Unternehmen ziemlich einfach, auch mehr Tests abzurechnen, als sie tatsächlich durchgeführt hatten.


Bekanntester Verdachtsfall war das Unternehmen MediCan mit Sitz in Bochum, das bundesweit mehr als 50 Testzentren betrieb. NDR, WDR und "Süddeutsche Zeitung" (SZ) hatten berichtet, dass MediCan an mehreren Standorten und Tagen deutlich mehr Schnelltests an das NRW-Gesundheitsministerium meldete, als Reporter vor Ort gezählt hatten. Die Staatsanwaltschaft Bochum leitete daraufhin ein Ermittlungsverfahren gegen Verantwortliche von MediCan ein.


Inhaber Oguzhan C. und sein Sohn, der als Geschäftsführer fungierte, wurden daraufhin festgenommen. Während der Sohn inzwischen aus der Untersuchungshaft entlassen worden sein soll, soll der Vater immer noch in Untersuchungshaft sitzen. Die Staatsanwaltschaft verdächtigt die Beschuldigten, einen Schaden von mehr als zehn Millionen Euro verursacht zu haben. MediCan stellte im Juni den Betrieb der Testzentren ein. Einer der Verteidiger der Beschuldigten wies damals bereits den Betrugsverdacht zurück. Es habe nie die Absicht bestanden, "irgendjemanden zu betrügen". Die Staatsanwaltschaft Bochum bestätigt derzeit lediglich, dass sie gegen drei Verdächtige wegen Betrugsverdachts ermittelt. Konkrete Fragen zum Fall will sie aber nicht beantworten.


Gesundheitsministerium sah Handlungsbedarf

Nach Aufdeckung der Misstände räumte auch das Bundesgesundheitsministerium in einem internen Papier ein, dass "Handlungsbedarf" bestehe. Spahn erließ daraufhin eine neue Testverordnung, die nun seit Juli gilt und Abrechnungsbetrug erschweren soll.


Die Zahl von mindestens 94 Ermittlungsverfahren zeige, dass die neue Verordnung ihren Zweck erfüllte, lässt Spahn auf Anfrage mitteilen. Außerdem möge man bedenken, dass es zeitweise mehr als 20.000 Testzentren in Deutschland gegeben habe. "Gemessen daran ist die Zahl der Ermittlungsverfahren immer noch relativ gering", schreibt das Ministerium per E-Mail. Auch wurde die Vergütung eines einzelnen Tests inzwischen von 18 Euro auf 11,50 Euro gesenkt.


Ermittler gehen von hoher Dunkelziffer aus

Alleine für die seit März durchgeführten Schnelltests belaufen sich die Ausgaben des Bundes auf ungefähr drei Milliarden Euro. Genaue Zahlen liegen dem Gesundheitsministerium allerdings nicht vor, weil erst seit 1. Juli "die Bürgertestungen bei der Abrechnung gesondert zu kennzeichnen" seien, wie das Ministerium mitteilt.


Auch die Höhe eines möglichen Schadens durch Abrechnungsbetrug lässt sich nicht abschätzen. Die Verfahren verliefen oft schleppend, erzählen Ermittler. In vielen Fällen gebe es kaum Unterlagen, anhand derer sich die Arbeit der Teststationen nachvollziehen lassen. Das erschwere es, Abrechnungen im Nachhinein zu überprüfen. In Ermittlerkreisen geht man zudem von einer hohen Dunkelziffer bei Betrugsfällen von Betreibern privater Schnellteststationen aus.


Hotspot Freiburg?

Neben Berlin sind auch in Freiburg im Breisgau überdurchschnittlich viele Verfahren anhängig. "Etwa sieben" Ermittlungsverfahren laufen hier nach Angaben der Staatsanwaltschaft. In ganz Baden-Württemberg sind es nur zehn. Der zuständige Staatsanwalt Michael Mächtel sagt, ein großer Teil der Freiburger Verfahren sei auf Anzeigen von Bürgerinnen und Bürger zurückzuführen, die beispielsweise mit der Qualität der Testungen unzufrieden gewesen seien.


In Bayern gibt es derzeit zehn Ermittlungsverfahren, die bei der Zentralstelle zur Bekämpfung von Betrug und Korruption im Gesundheitswesen in Nürnberg gebündelt werden. Auch in Thüringen gibt es eine vergleichbare Zentralstelle. Dort sind allerdings bisher keine Verfahren bekannt.


Bei den Staatsanwaltschaften in Nordrhein-Westfalen sind momentan mindestens sechs Verfahren anhängig. In Schleswig-Holstein laufen vier Verfahren, in Hessen zwei und in Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern jeweils eines.


Oft geben Bürger entscheidenden Hinweis

In Kassel sitzen zwei Personen in Haft. Sie würden verdächtigt, innerhalb von zwei Monaten Leistungen für mehr als eine Million Euro zu Unrecht abgerechnet zu haben, heißt es aus der Staatsanwaltschaft. Zudem bestehe der Verdacht, dass bewusst Hygiene-Standards umgangen worden seien. Auf einen entsprechenden Zeugenaufruf von Staatsanwaltschaft und Polizei meldeten sich mehr als 500 Menschen.


In vielen Fällen sind es Bürger, die den Ausschlag für Ermittlungsverfahren geben - zum Beispiel, indem sie den Ermittlungsbehörden mitteilen, dass ihnen ein positives Testergebnis zugeschickt worden sei, obwohl sie gar nicht zum Termin erschienen seien. Als Reaktion auf die möglichen Betrugsfälle entzogen viele Kommunen den jeweiligen Betreibern die Lizenz. Allein in München verloren bereits fünf Betreiber ihre Beauftragung, weil sie ungerechtfertigte Negativzertifikate vergaben. Ihre 15 Standorte wurden geschlossen.

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