Kaffeetrinken mit YC in der WG-Küche ist in der vergangenen Zeit selten geworden. „Zu viel zu tun", sagt sie als Entschuldigung. Sie ist auf der Suche nach einer Stelle. Neulich hat sie mir von ihrer neuen, ersten Knirschschiene erzählt. Seit Monaten habe sie heftige Verspannungen im Kiefer, der Grund dafür sei zu viel Stress. Weil sie die Schmerzen erst hat, seitdem sie Arbeit sucht, ist die Schlussfolgerung für sie klar: Die Unsicherheit nagt an ihr.
YC kommt aus Taiwan, sie ist eine Weltenbummlerin. Neben Deutsch spricht sie drei weitere Sprachen fließend, seit 2016 studiert sie BWL an der Uni Mannheim, Auslandssemester in Schweden inklusive. Ein Leben zuhause kann sie sich nicht mehr vorstellen. „Taiwan ist mir zu klein geworden", sagt sie. Und genau hier liegt das Problem, das sie nachts die Zähne aufeinander pressen lässt.
An sich ist das deutsche Aufenthaltsrecht für junge Akademiker liberal. Für bis zu zehn Jahre erhalten Menschen, die nicht aus der EU stammen, ein Studentenvisum in Deutschland. Damit ist der grundlegende akademische Weg von Bachelor bis Promotion möglich. Wer nach dem Studium bleiben möchte, dem räumt der Staat eine Frist von 18 Monaten ein, um eine der eigenen Qualifikation entsprechende Stelle zu finden. Der erste Job ist bekanntlich am schwierigsten zu bekommen, das Aufenthaltsgesetz, hier Paragraph 20, reflektiert das. So großzügig, so eindeutig ist das: Wer nach 18 Monaten keinen Job gefunden hat, muss Deutschland verlassen. Und das bereitet YC Sorge.
Die Lage ist verzwicktEigentlich hatte sie einen guten Plan. Weil sie das BWL-Studium auf Deutsch viel Anstrengung kostete, konzentrierte sie sich zunächst rein darauf. Während ihre Kommilitonen in den Semesterferien Praktika machten, lernte sie, um an der Uni mithalten zu können. Da Praktika einen guten Weg in den Arbeitsmarkt darstellen, wollte YC sie an das Ende des Studiums schieben. Das machen viele so: Man verlegt die letzte Prüfung in das kommende Semester, der Studentenstatus bleibt bestehen, man nutzt das Semester für Praktika und lernt nebenbei für die Prüfung. Sinn und Zweck dahinter: Ein Praktikum bekommt man meist nur mit gültiger Immatrikulationsbescheinigung, weil das für Unternehmen billiger ist.
YC hatte für Praktika zwei Semester vom Frühjahr 2020 an eingeplant. Nach ihrer letzten Klausur im Dezember 2020 wollte sie dann mit Arbeitserfahrung in deutschen Unternehmen hoffentlich leicht auf dem Arbeitsmarkt Fuß fassen. Doch dann kam Corona, ein Praktikum fand sie nicht mehr. Circa 80 Bewerbungen habe sie 2020 verschickt - alles Absagen. Mittlerweile sei die allgemeine Lage zwar besser, für sie aber ungemein schlechter, denn seit Dezember hat sie ihren Bachelorabschluss. Als Praktikantin kommt sie für die meisten Unternehmen nicht mehr in Frage. Deswegen bewirbt sich YC nun auch auf Arbeitsstellen. Ohne Praktika im Lebenslauf gestalte sich das aber ebenso kompliziert.
Die Lage ist verzwickt. YC hat ihren Lebensweg auf Deutschland zugeschnitten. Von 2009 bis 2014 hat sie Germanistik in Taiwan studiert. Erst aus Neugierde an der Sprache, während eines Auslandjahrs in Tübingen hat sie sich dann in das Land verliebt. Nach einer kurzen Berufstätigkeit in Taiwan ist sie 2016 nach Mannheim gekommen, mit dem Ziel zu bleiben. Ein Studium in Deutschland erschien ihr dazu als bester Weg. Mittlerweile ist sie 30 Jahre alt und sehnt sich danach, endlich in Deutschland zu arbeiten und die Uni hinter sich zu lassen.
Sicher ist nur die UnsicherheitDass immer mehr junge Menschen ihre Karten auf Deutschland setzen, legen Zahlen des Statistischen Bundesamtes nahe. Im Prüfungsjahr 2019 machten etwa 48.500 Ausländer einen Hochschulabschluss in Deutschland, die für ihr Studium gekommen sind. Das sind knapp 80 Prozent mehr als zehn Jahre zuvor. Dabei steigt die Zahl der Absolventen aus Nicht-EU-Ländern stärker an als aus der EU. Kam 2009 etwa jeder dritte Absolvent aus der EU, war es 2019 nur noch jeder vierte. Im gleichen Zeitraum sind die Zahlen taiwanischer Absolventen um das zweieinhalbfache von 157 auf 407 gestiegen.
So genau die Statistik die ausländischen Studierenden betrachtet, so sehr lässt sie die Frage nach ihrem Abschluss außer Acht. Zwar weist das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge darauf hin, dass Ende 2019 etwa 10.300 Absolventen ein Visum für die Jobsuche (AufenthG, §20) hatten und damit etwa 9 Prozent mehr als im Jahr zuvor, über Erfolgsquoten bei der Jobsuche gibt es aber keine aktuellen Zahlen. Was man weiß: Zwischen 2005 und 2013 blieben knapp 80 Prozent aller Absolventen, die ein Visum zur Arbeitssuche hatten, langfristig in Deutschland.
Was die Zahlen für YC bedeuten könnten, darüber lässt sich bloß mutmaßen. Sicher ist nur die Unsicherheit, womit es ihr wie vielen ausländischen Absolventen geht. Im Gegensatz zu Master-Absolventen ist YC mit ihrem BWL-Bachelor-Abschluss noch in einer vergleichsweise komfortablen Situation. Sie kann noch witerstudieren und damit das Problem der Stellensuche aufschieben. Gleichzeitig wäre sie dank dem Studentenvisum für den Master wieder im Rennen um die bei Studierenden und zukünftigen Arbeitgebern gleichsam beliebten Praktikumsplätze.
YC zeigt sich optimistisch. „Ich glaube, jetzt ist einfach eine falsche Zeit für mich. Eigentlich gibt es in Deutschland ja viele Chancen", sagt sie. Ihre Karten für das Glücksspiel, das sich Leben nennt, setzt sie auch weiterhin auf Deutschland - allem Zähneknirschen zum Trotz. Wenn es bis zum Sommer mit einer Stelle nichts wird, möchte sie Plan B einläuten und ab Herbst im Master weiterstudieren. Die Corona-Misere säße sie dann an der Uni aus. Ein Glück, das ihre internationalen Kommilitonen mit Masterabschluss oder nach der Promotion nicht haben. Auf die wartet mitunter der Flieger nach Hause.
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