Minutenlang liegt er auf dem Boden und versucht die auf ihn einschlagenden Fäuste abzuwehren. Mitten im Zentrum von Warschau, an einem der meistbefahrenen Kreisverkehre der Stadt. 13 Jahre ist das nun her, und trotzdem ist alles gleich wieder da: die schwarze Lederjacke, der Schlagring, den der Angreifer über die Finger seiner Faust gesteckt hatte, der Moment, in dem er ihm auch dann noch zusammen mit zwei anderen Männern nachjagt, als er sich über den Bürgersteig kriechend in den anhaltenden Bus zu retten versucht.
Es ist in seiner Stadt passiert. Der Stadt, in der Oktawiusz Chrzanowski mit seinen Eltern aufwächst, sein Soziologiestudium abschließt und mit seinem Partner zusammenzieht. Nach dem Angriff fragt er sich, wie es sein kann, dass man einem Menschen Gewalt antut, nur weil er schwul ist. Was macht er noch hier? Warschau, das ist nun nicht mehr seine Stadt.
Oktawiusz zieht gemeinsam mit seinem Partner nach Amsterdam. Dort erlebt er, was es bedeutet, tatsächlich Teil einer Gesellschaft zu sein. Der Moment am Boden, das wird ihm nun klar, hat seine sexuelle Orientierung zu etwas Politischem gemacht. Als Chrzanowski mit seinem Partner 2010 zurück nach Warschau zieht, wird Engagement zu seinem Beruf.
In ganz Europa sind rechtspopulistische und rechtsextreme Parteien auf dem Vormarsch: In Polen und Ungarn regieren sie mit absoluter Mehrheit, in Österreich waren sie bis vor kurzem als Teil einer Koalition in der Regierung vertreten, ebenso wie in Norwegen die Fortschrittspartei. In Frankreich hat es Marine Le Pen, Vorsitzende des Rassemblement National, bis in die Stichwahl des Präsidentenamtes geschafft, in Italien hätte Matteo Salvini vor kurzem fast eine Alleinregierung der rechten Lega durchgesetzt.
Rechtspopulistische Parteien sind nicht mehr nur Randerscheinungen. Mittlerweile sind sie dort angekommen, wo sie die Politik ihrer Länder aktiv gestalten können. Der Schutz von Minderheiten ist eigentlich oberste demokratische Pflicht - zu den Zielen der Rechtspopulisten gehört er nicht. Wie verändert das die tägliche Arbeit zivilgesellschaftlicher Akteure? Wie handlungsfähig bleiben sie, wenn der Staat in ihnen plötzlich einen Fremdkörper erkennt? Oktawiusz Chrzanowski kämpft in Warschau für die Akzeptanz Homosexueller, Agnes Kalota gibt Obdachlosen in Budapest kostenfreie Rechtsberatung, und in Linz engagiert sich Luzenir Caixeta trotz gestrichener Förderungen weiterhin für die Rechte von Migrantinnen: Drei Geschichten mit vielen Gemeinsamkeiten, die etwas über Zustand und Widerstandsfähigkeit der europäischen Demokratien verraten.
An einem sonnigen Samstagnachmittag läuft Chrzanowski durch die Straßen von Warschau, in roten Shorts und mit Jute-Turnbeutel auf dem Rücken. Chrzanowski trägt eine schwarze Basecap mit Blumenmuster, darunter blitzen zwei huskyblaue Augen hervor. Inzwischen ist er das Gesicht der LGBTQ-Community der Stadt, engagiert sich für die NGO Miłość Nie Wyklucza, Liebe schließt nicht aus. Es ist Ostersonntag, und die Menschen, die ihm in Anzug oder Kleid entgegenkommen, sind auf dem Weg in die Kirche. 86 Prozent der Polen bezeichnen sich als gläubige Katholiken. Der fehlende Glaube ist nur eines von vielen Dingen, durch die Chrzanowski in der polnischen Gesellschaft auffällt. Und doch hat sich für Homosexuelle in Polen in den vergangenen Jahren viel verändert. Als das Land 2004 der EU beitritt, lehnen noch 94 Prozent der Bürger Homosexualität ab, 2013 sind es nur noch 26 Prozent. Die Pride-Paraden werden von Jahr zu Jahr größer, und mit Robert Biedroń wird 2011 zum ersten Mal ein offen schwuler Abgeordneter ins nationale Parlament gewählt.
Als 2015 die rechtspopulistische Partei PiS unter Jarosław Kaczynski die nationalen Wahlen gewinnt, werden all diese Fortschritte wieder infrage gestellt. Chrzanowski bleibt vor einem leeren Platz stehen. Bis vor zwei Jahren stand hier ein Regenbogen aus Papierblumen, ein Symbol der LGBTQ-Szene. Regelmäßig wurde er von rechten Gruppen niedergebrannt und zuletzt sogar gar nicht mehr aufgebaut. Wie kann man als schwuler Aktivist gegen die Deutungshoheit seiner eigenen Regierung ankommen?
›Wir haben ein Sicherheitsanliegen daraus gemacht‹, sagt Chrzanowski. Er versucht, dem Narrativ der PiS, in dem Homosexuelle als Bedrohung dargestellt werden, ein neues entgegenzustellen: Junge Menschen werden zum Opfer homophober Gewalt. Es ist der Versuch, einen Wandel von unten zu bewirken, über die urbane Bevölkerung, die meist die Opposition wählt. Bei den Lokalwahlen im April 2018 sichern die Bürgermeisterkandidaten mehrerer größerer Städte zu, die Forderungen der Community in ihr politisches Programm aufzunehmen. Vielleicht war es jenes erfolgreiche Kalkül, in dem die PiS eine Bedrohung ihrer Macht erkannte. Die Regierung und ihre Unterstützer erklärten daraufhin in einer politischen Kampagne Homosexuelle und Transgender-Personen zu Staatsfeinden. Kaczynski nennt die ›LGBT-Ideologie‹ eine ›Gefahr für die polnische Identität und Nation‹.
Acht Monate hat Oktawiusz Chrzanowski immer wieder versucht, Rafał Trzaskowski, den Bürgermeister von Warschau, zu überzeugen. Dann hatte er ihn soweit: Am 22. Februar 2019 hält Trzaskowski auf der Bühne des Rathauses die unterschriebene Urkunde in die Kameras, der Aktivist steht mit einem feierlichen Lächeln daneben. Die Deklaration ist das erste Dokument, das die LGBTQ-Rechte in Polen anerkennt und zudem konkrete Maßnahmen zum Schutz von Homosexuellen und Transgender-Personen festschreibt.
Auf dieser Grundlage sollen in den kommenden fünf Jahren konkrete Maßnahmen zum Schutz der LGBTQ-Community getroffen werden, etwa die Einrichtung eines Nottelefons und die Schaffung einer Unterkunft, in der junge Menschen, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung von ihren Eltern verstoßen werden, Zuflucht finden.
Chrzanowski muss den Arm ausstrecken, um an den weinroten Ledereinband auf dem Regal im Büro seiner NGO zu kommen. ›Das hier ist die ganze Arbeit‹, sagt er und blättert in den losen Seiten der Erklärung. Dieses Mal hat ihn Warschau nicht enttäuscht. ›Die LGBTQ-Community macht zehn Prozent der Warschauer Bevölkerung aus. Es ist wichtig, dass nach so vielen Jahren gesagt wird, ja, du lebst hier als LGBT-Person auch.‹ Es zeigt auch, dass sich Zivilgesellschaft nicht gegenüber einer rechtspopulistischen Regierung geschlagen geben muss. Zumindest gilt das bis zu diesem Zeitpunkt.
Denn: ›Nach der Deklaration haben sie angefangen, uns genau zu beobachten‹, erinnert sich Chrzanowski. Sein Facebook-Profil wird akribisch durchsucht, und dann erscheint ein Artikel, der seiner NGO eine verschwörerische Strategie unterstellt. ›Am Anfang war das witzig, weil es hier sowas wie eine Homolobby nicht gibt. Wir haben ein sehr geringes Budget.‹ Aber dann wird es beängstigend. Auf der polnischen Bischofskonferenz wird davor gewarnt, die Gleichbehandlung von Homo- oder Transsexuellen gefährde die europäische Zivilisation. Auch die PiS geht zum Angriff über. Regierungsnahe Medien lassen Kritiker auftreten, die LGBTQ-Aktivisten beschuldigen, Kinder zu belästigen, um sie ›schwul zu machen‹.
Über den Sommer 2019 wird nach den Migranten die LGBTQ-Szene zum neuen Feindbild der Regierung. Und der Dauerwahlkampf scheint bei den Polen anzukommen. Nach einer aktuellen Umfrage würden 46 Prozent der Polen bei den Parlamentswahlen diesen Herbst noch einmal die PiS wählen. [...]
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