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Im Westen nichts Neues?

Doch wie genau kam es dazu, dass westliche Marken, Menschen und Medien sich auf einmal vor Begeisterung überschlagen, anstatt die Nase zu rümpfen in Anbetracht des „Ostblock-Chic"? Das Klischee, das beim Aufrufen typisch „russischer Looks" durch die meisten Köpfe spukt, war bis dato meist das einer überfeminisierten, ostentativ prunkvollen Weiblichkeit: ausladende Pelzmäntel, schwindelerregend hohe High Heels, exzessiv viel Make-up. Weil, so die Rationalisierung, „die im Ostblock doch nichts hatten" und Jahre des Mangels und der Abgeschiedenheit nun mit demonstrativem Bling-Bling kompensiert werden müssten. Doch die Looks, für die Rubchinskiy und Gvasalia aktuell so gefeiert werden, erzählen genau den anderen Teil der Geschichte. Roughe, maskuline Streetstyles, gern inszeniert vor zerbröckelnden Monumenten des Sozialistischen Brutalismus, verweisen ebenso stolz auf ihre Verankerung in proletarischen Anti-Looks wie auch auf die untergegangene Sowjetunion, der mit kyrillischen Schriftzeichen und Hammer-und-Sichel-Symbolen gedacht wird. Während man früher eher verschämt westliche und damit quasi unerreichbare Brands fakte, läuft dieser Prozess heute ganz offen in der Form von Koops mit internationalen Playern wie Adidas, Reebok oder Fila.

Der Hype erklärt sich zum Teil aus den mittlerweile altbekannten Retrozyklen in der Fashionwelt, in der seit einer Weile nun eben die 1990er „dran sind". Direkt nach dem Fall des Eisernen Vorhangs gab es eine erste Welle der Begeisterung für kyrillische Buchstaben und vermeintlich sozialistische Looks wie Lenin-Mützen oder Hosenträger. Neu jedoch ist, dass es nun in der ehemaligen Sowjetunion geborene Kreative sind, die auf ihr eigenes Erinnerungsarchiv zurückgreifen, anstatt dass aus dem Westen zusammenhanglos als russisch-sozialistisch empfundene Versatzstücke collagiert werden.

Wer in diesem Zusammenhang Gosha Rubchinskiy oder Demna Gvasalia, Kreativdirektor von Vetements und Balenciaga, sagt, sollte aber auch Lotta Volkova sagen. Die aus Russland stammende ehemalige Designerin und heutige Stylistin wurde 2004 in London durch Rei Kawakubo, die Gründerin des Labels Comme des Garçons, entdeckt, traf 2007 in Paris auf die Fotografin Ellen von Unwerth und arbeitet seitdem außerordentlich eng und erfolgreich mit Gosha Rubchinskiy und Vetements zusammen. Sie sind die Aushängeschilder westlicher Medien für eine neue postsowjetische Generation. Rubchinskiy und sie - beide 1984 im heutigen Russland geboren - teilen kulturelle und zeitgeschichtliche Erfahrungen. Während viele Männer Anfang der 1990er-Jahre einer kollektiven Depression verfielen und nach einer neuen Männlichkeit suchten, wurden sowjetische Frauen erneut mit einer patriotischen Bringschuld und Doppelrolle als Arbeitskraft und Mutter beladen.

Volkova sprach in einem Interview mit der Internetplattform „Business of Fashion" davon, sich wegen der propagierten Bilder der starken, sow­jetischen Frau, unter denen sie und ihre Mutter jeweils aufwuchsen, nie als das schwächere Geschlecht gefühlt zu haben. Im Gegenteil, Stalin kultivierte das Image heroischer Revoluzzerinnen und glorifizierte die Arbeitskraft sowjetischer Frauen. Die Oktoberrevolution und die darauf folgende „Diktatur des Proletariats" bildeten zwar die erste Basis zur Befreiung der Frau, jedoch wurden durch die fortschreitende Industrialisierung und Bürokratisierung durch Stalin Alternativen zu traditionellen Familienbildern stark eingeschränkt. Millionen Frauen wurden zur Lohnarbeit gezwungen und öffentliche Hilfseinrichtungen wie Kindergärten und Volksküchen ließ er absichtlich verkommen.

Es waren jedoch schon zu Beginn der Sowjetunion vor allem Frauen, die eine minimalistisch-pragmatische Vorstellung von Kleidung prägten, die bis heute in internationalem Design nachwirkt. Künstler...

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