Berlin. An einem Baumstamm schlängeln sich Zweige über viele Meter entlang der dunkelbraunen Backsteine. Auf einem dicken Ast ist ein Nest zu erkennen. Gesichter von Müttern, Kindern, Erkrankten und einem Leichnam sind dort eingraviert. Das Wandbild des Künstlers Ben Wagin an der Brandmauer des S-Bahnhofs Savignyplatz steht für Vergänglichkeit, den unentrinnbaren Lauf der Natur. Es vermittelt die Botschaft der Bäume. Nun soll der „Weltbaum II“, so der Name des Bildes, verschwinden. Etwas verblasst ist es nach vielen Jahrzehnten bereits, Graffitis wurden über Teile des Stamms gesprüht. Im Juni soll es endgültig von der Mauer entfernt werden. Grund ist eine Sanierungsmaßnahme.
Anfang Mai bekam Wagin einen Brief von dem Unternehmen Immofinanz Management, dem die Brandschutzmauer am S-Bahnhof gehört. Darin fordert es Wagin auf, sein Kunstwerk „selbst zu sichern“, mithilfe von Fotografien oder auf andere Art. Die Mauer müsse dringend energetisch saniert werden, heißt es weiter. Wagin wird ein Ultimatum gestellt: Bis zum 30. Juni dieses Jahres muss er sich um das Wandbild kümmern, damit es „für die Nachwelt erhalten werden kann.“ Auf Anfrage der Berliner Morgenpost bestätigt das Immobilienunternehmen, dass es den Künstler nicht dabei unterstützen wird, den „Weltbaum II“ zu erhalten.
Savignyplatz: Ben Wagin hofft auf Unterstützung für Erhalt von Kunstwerk
Das Wandbild schuf Wagin 1985, gemeinsam mit mehreren Dutzend Künstlerkollegen und Maurern. Mithilfe eines Krans mussten sie die filigranen Silhouetten der Pflanzen und Gesichter nachts in das Relief gravieren, wenn die S-Bahn nicht fuhr. Wagin, der sich in seinem Werk mit Klimaschutz und dem Erhalt der Natur auseinandersetzt, bezweifelt nicht, dass die Sanierung der Mauer nötig ist. Für ihn stellt sich jedoch die Frage, wie er sein Kunstwerk erhalten, wie er das Relief von der Mauer abtragen und an anderer Stelle wiederaufbauen kann.
Da der Besitzer der Mauer ihm dabei nicht helfen wird, hofft er auf die Unterstützung des Bezirksamts Charlottenburg-Wilmersdorf oder der Senatsverwaltungen für Stadtentwicklung und Kultur. Falls auch von dort keine Hilfe in Aussicht gestellt wird, müsste Wagin die Kosten für den Erhalt des Kunstwerks selbst übernehmen.
Berliner kennen Wagin als den „Baumpaten“
„Noch nie habe ich mich so missverstanden gefühlt wie heute“, sagt Wagin, als er in seinem Atelier in der Joseph-Haydn-Straße 1 sitzt. Es ist ein denkmalgeschütztes Haus, Ende des 19. Jahrhundert erbaut, für dessen Erhalt er sich eingesetzt hatte. Allein das Treppenhaus, das Gustave Eiffel, der berühmte Eiffelturm-Erbauer, konstruiert haben soll, ist heute immer noch ein Schmuckstück. Unter den pittoresken Wendeltreppen sitzt Wagin, umgeben von seinen Skulpturen und Malereien.
Für den 91-Jährigen geht es um viel mehr als dieses eine Wandbild am Savignyplatz. Er kämpft um sein künstlerisches Erbe, das er in Gefahr sieht. Vielen Berlinern ist er als der „Baumpate“ bekannt - er schenkte der Hauptstadt nicht nur gemalte und gemeißelte Bäume, er pflanzte sie auch an vielen historischen Orten.
Wagin will das „Parlament der Bäume“ sanieren
Weltberühmt ist sein „Parlament der Bäume“ am östlichen Ufer der Spree gegenüber dem Reichstagsgebäude, ein Gedenkort für die Todesopfer an der Berliner Mauer. Gemeinsam mit anderen Künstlern arrangierte Wagin dort am 9. November 1990 Gedenksteine, Bilder und Teile der Grenzsicherungsanlagen. Bäume und Blumen wurden gepflanzt. Den Hintergrund bildeten Segmente der Berliner Mauer. Die Künstler setzten damit ein Zeichen gegen Krieg und Gewalt, die Folgen des Eisernen Vorhangs.
Auch dieses Kunstwerk sei in keinem guten Zustand, erzählt Wagin. Eine Sanierung der Anlage sei dringend nötig. Die Betriebskosten für Strom und Wasser müsse er aus eigener Tasche bezahlen – indem er seine Kunstwerke verkaufe. „Mir fehlt die Unterstützung“, sagt er. Energisch haut er mit der Faust auf den Tisch. Dabei reißt er seine Augen weit auf. Sein Blick wirkt wach, beinahe jugendhaft, zwischen den Furchen, die das Leben in sein Gesicht gezeichnet hat.
Brief von Regierendem Bürgermeister Michael Müller gibt Hoffnung
Einst zählten zu Wagins Mäzenen politische Größen, etwa die Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) und Gerhard Schröder (SPD) oder die Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker (CDU) und Walter Scheel (FDP). Sie unterstützten ihn mit Spenden – auch für das Parlament der Bäume. „Jetzt gibt es dort oben niemand mehr“, sagt Wagin, zeigt über sich, auf die sich scheinbar endlos windende Wendeltreppe.
Hoffnung gab ihm zuletzt ein Brief des Regierenden Bürgermeisters Michael Müller (SPD) anlässlich seines 90. Geburtstags, den er aus der Ecke seines Ateliers holt. „Mit Deinen Werken forderst Du uns immer wieder heraus, gibst uns Denkanstöße zur Verletzlichkeit der Natur“, schreibt Müller.
Wagin fragt sich, was von seiner Kunst übrig bleibt
Auch die Kunst, die Ben Wagin schuf, ist verletzlich. Der Weltbaum am S-Bahnhof Savignyplatz ist eine Mahnung an den Menschen. Er darf, durch Fortschrittsdenken und kulturelle Perversion zu Krieg und Holocaust fähig, die Botschaft der Bäume nicht vergessen. Der Savignyplatz ist einer der Orte Berlins, der die Verwüstung der Kultur durch die Nationalsozialisten besonders schmerzlich erfahren lässt. Hier wohnten Künstler und Intellektuelle wie Else Ury, Alfred Flechtheim, Leo Blech, Charlotte Salomon, George Grosz und Walter Benjamin, die von den Nazis vertrieben, wenn nicht gar ermordet wurden.
Er erinnere sich noch, als er 1947 nahe dem Brandenburger Tor auf dem Areal der Kroll-Oper stand, die das NS-Regime für die Sitzungen seines Parlaments genutzt hatte, erzählt Wagin. Er stand dort inmitten der Trümmer des Zweiten Weltkriegs. „Das einzig Lebendige, das übriggeblieben war: eine alte Eiche neben der Oper“, erzählt er. Nun muss sich Wagin fragen, was von seinem Weltbaum, seinem gesamten künstlerischen Werk, übrig bleibt. Er habe nicht viel Zeit, um seinen Nachlass zu regeln, betont er: „Mein Leben befindet sich am Abspann.“
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