Gummistiefel im Schlick im Wattenmeer der Nordsee - dieses Bild hat Kai Bodensiek vor Augen, wenn er an die Urlaube im Berlin-Wilmersdorfer Nordseeheim in seiner Kindheit zurückdenkt. „Wir Kinder sind mit den Stiefeln im Schlamm hängen geblieben. Die Betreuer haben uns dann herausgezogen, aber die Schuhe waren dahin", sagt Bodensiek.
Gerne würde der 43 Jahre alte Rechtsanwalt im Sommer seine Töchter Franziska und Johanna, fünf und sechs Jahre alt, in das Landschulheim in Wittdün auf Amrum schicken. Doch ob auch sie dort bald im Schlick toben können, ist fraglich. Dem Berlin-Wilmersdorfer Nordseeheim, das es bereits seit 1925 gibt, droht nun das Aus. Schuld ist das Corona-Virus.
Klassenfahrten für Schulen und Urlaubsreisen für karitative Organisationen mit Jugendlichen oder Senioren bietet das Nordseeheim an, wobei der Schwerpunkt auf der Arbeit mit Kindern liegt. Fast alle Buchungen von Jugendverbänden und Schulen seien bis August dieses Jahres storniert worden, sagt Katrin Lück, Aufsichtsratsmitglied des Vereins für Erholungs- und Ferienstätten Berlin-Wilmersdorf.
Der Verein ist freier Träger des Nordseeheims. Lück rechnet mit einem Umsatzverlust von 82 Prozent gegenüber dem Vorjahr, insgesamt 320.000 Euro. Ob Bundesländer Klassenfahrten 2020 überhaupt erlauben werden, bleibt angesichts der unabsehbaren Folgen der Corona-Krise ungewiss.
„Die Pandemie trifft uns in besonderem Maße, weil gemeinnützige Träger anders als kommerzielle Anbieter kaum Risikorücklagen bilden dürfen", sagt Lück. Daher sei das Nordseeheim auf längere Schließungen oder Ausfallzeiten strukturell nicht vorbereitet. Kredite der Landes- oder Bundesregierung sind aus ihrer Sicht keine Lösung; ihre Rückzahlung würde langfristig zu einer Überschuldung und damit zum Konkurs der Einrichtung führen.
Lück hofft, dass die Senatsverwaltung einen Rettungsschirm für gemeinnützige Organisationen wie Landschulheime bereitstellen wird. „Eine solche Zahlung könnte uns über diese schwierige Zeit hinweg helfen, bis wir selbst wieder wirtschaftlich arbeiten können", sagt Lück.
Vorbild könnten Programme anderer Bundesländer sein. So wurde in Bayern nach einer Kabinettssitzung Ende April beschlossen, Landschulheimen eine Entschädigung von 60 Prozent der entfallenden Einnahmen bis Ende Juli 2020 zu zahlen. Bayern jedoch setze bei Corona-Fördergeldern strukturell bedingt vermutlich andere Schwerpunkte als der Stadtstaat Berlin, wie Eva Henkel, Pressesprecherin der Senatsverwaltung für Finanzen, erklärt.
Während in Bayern aufgrund seiner großen Fläche ländliche Einrichtungen wie Landschulheime bei der Förderung Priorität haben, wollte Berlin mit Soforthilfen zunächst Kleinunternehmer und Selbstständige unterstützen. Über die schwierige Situation von gemeinnützigen Einrichtungen wie Landschulheimen angesichts der Krise sei sie sich bewusst, sagt Henkel.
Das Nordseeheim hatte die Soforthilfe für Kleinunternehmen und damit eine Summe von insgesamt 14.000 Euro ebenfalls erhalten. Doch sie reiche lediglich aus, um die Fixkosten für einen Monat zu begleichen, wie der Vereinsvorsitzende Michael Nestoroff erklärt. Mit der einmaligen Zahlung einer höheren Summe könnte das Nordseeheim die Krise jedoch bewältigen, glaubt er. „Wir könnten dann einen kleineren Kredit im Rahmen unserer finanziellen Möglichkeiten aufnehmen, um die restlichen Fixkosten zu zahlen", sagt Nestoroff. Der Träger muss neben Betriebs- auch Lohnkosten für bis zu acht Angestellte des Nordseeheims zahlen, unter ihnen Köche, Hausmeister und Bürokräfte.
Welche Folgen eine Schließung für alle Beteiligten hätte, sieht auch Kurt Ottenberg, der dem Verein seit 50 Jahren angehört, zunächst als Vorstands- und dann als Aufsichtsratsmitglied. Ottenberg besuchte das Nordseeheim erstmals in den 50er-Jahren auf einer Erholungsreise mit einer Wilmersdorfer Jugendgruppe. „Wir jungen Leute haben damals die Insel für uns erobert. Das war wenige Jahre nach der Wiedereröffnung nach dem Zweiten Weltkrieg", erinnert sich der 91-Jährige.
Am 1. April 1925 eröffnet, war das Nordseeheim vor dem Krieg eine Erholungs- und Kurstätte für sozial benachteiligte Kinder aus Wilmersdorf. Zwischen 1939 und 1945 diente das Haus den Nationalsozialisten als Lazarett. Nach Kriegsende wurde es von der britischen Militärregierung beschlagnahmt und als Flüchtlingsunterkunft genutzt. Nachdem die Vertriebenen umgesiedelt wurden, konnte das Heim nach einer umfassenden Renovierung ab Mai 1950 wieder Kinder aufnehmen.
Zehn Jahre nach seinem ersten Besuch entschloss sich Ottenberg, dem Verein beizutreten. So unterstützte er beispielsweise in den 60er-Jahren den Bau eines Wohnheims für Personal.
„Ich bin jedes Jahr zwei Mal nach Amrum gefahren, um vor Ort meine Unterstützung anzubieten. Auch dieses Jahr hätte ich das gern gemacht. Es wäre traurig, wenn eine solche Einrichtung, die Tausenden von Kindern unvergessliche Eindrücke gebracht hat, nun wegen der Corona-Krise schließen muss", sagt Ottenberg. Über Jahrzehnte habe sich das Heim finanziell über Wasser halten können, doch einen Leerstand wie in diesem Jahr könne der Träger nicht überstehen.
Die ehrenamtlichen Mitglieder des Vereins hätten bereits verschiedene Überlegungen angestellt, wie man die Kosten trotz Krise decken könnte, sagt der Vereinsvorsitzende Nestoroff: „Wir haben darüber nachgedacht, ob wir mehr Lehrer- und Kinderzimmer privat an Familien vermieten. Damit würden wir jedoch keinen gemeinnützigen Zweck mehr verfolgen und müssten mehr Abgaben zahlen." Somit rechne sich eine Öffnung des Heims für den privaten Tourismus nicht.
Auch bei einer Wiedereröffnung für Schulkinder muss sich das Nordseeheim an gesetzliche Corona-Vorgaben halten und könnte nur eine Person in einem Zimmer einquartieren. „Wenn wir keine Hilfszahlungen bekommen, werden wir mit der Wiedereröffnung ein unkalkulierbares Risiko eingehen", so Nestoroff weiter.