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Der Kandidat ist nicht zu fassen

"Was sind Sie eigentlich? Rechts, links, liberal, progressiv, weder noch, sowohl als auch?" In der satirisch angehauchten französischen Talkshow "Le petit Journal" bekommt Präsidentschaftskandidat Emmanuel Macron eine Tafel in die Hand gedrückt, auf der er Zutreffendes ankreuzen soll. Besonders lange muss der 39-Jährige nicht zögern. Unter anderem kreuzt er an: sowohl links als auch rechts. Weil beide Seite guten Ideen haben, sagt er.

Seit Monaten versucht der 39-jährige Präsidentschaftskandidat sich in der Kunst eines solchen Spagats. Sowohl volksnah als auch finanzmarktfreundlich; sowohl wachstumsfördernd als auch auf radikalem Sparkurs, sowohl hip und jung als auch seriös und rational. Einerseits ist da sein Buch mit dem ziemlich links klingenden Titel Revolution. Da ist die von Macron gegründete Bewegung "En Marche" ("Auf geht's!"), die Unabhängigkeit vom etablierten Parteiensystem suggeriert; es klingt nach Politik von unten.

Andererseits kommt Macron aus reichem Elternhaus, er hat wie alle Musterschüler der französischen Politik an der Elitehochschule ENA studiert und schließlich vier Jahre bei der Geschäftsbank Rothschild gearbeitet, wo er ein großes Geschäft mit Nestlé abgewickelt hat und Millionär wurde. Diese Laufbahn erklärt seine Nähe zum Medef, dem größten und mächtigsten Arbeitgeberverband Frankreichs. Das klingt dann doch nicht so nach der Graswurzelrevolution, die Macron seinen Wählerinnen und Wählern auf der Homepage "En Marche!" verkaufen will. Das klingt eher nach Establishment.

Ohne Partei und ohne Programm

Wer ist Macron also? Vielleicht wissen das nur wenige, und vielleicht ist er deshalb so beliebt - von den Medien wird er jedenfalls seit Monaten gefeiert. Dabei hatte Macron bis vor Kurzem noch nicht einmal ein Programm. Was bleibt bei einem parteilosen Kandidaten dann noch an Inhalten? Aus seiner Zeit als Minister für Wirtschaft, Industrie und Digitalisierung kennt man Macron jedenfalls als Wirtschaftsliberalen. Mit dem sogenannten Macron-Gesetz setzte er die Privatisierung öffentlicher Transportmittel sowie eine Lockerung von Arbeitnehmerrechten durch.

Erst am 3. März, knappe zwei Monate vor den Wahlen, erschien das Wahlprogramm des Präsidentschaftskandidaten. Ein "neues Wachstumsmodell" möchte Macron für Frankreich: "Umwandeln, investieren und weniger ausgeben" heißt es da. Die Seite ist in grün getaucht und von Bäumen geziert, und vermittelt ein Gefühl von umweltfreundlicher Politik. Für manche Wähler vielleicht schon Wohlfühlfaktor genug, um das Kreuzchen nachher an der richtigen Stelle zu setzen.

Wachstum und Freiwilligenarbeit

Aber um Bäume geht es nicht. Macrons "fortschrittliches" Wachstumsmodell sieht unter anderem vor, die Ausgaben im öffentlichen Bereich zu senken. 60 Milliarden Euro weniger soll der Staat in den nächsten fünf Jahren demnach ausgeben. Das betrifft vor allem die Sozialversicherung, die 25 Milliarden Euro weniger erhalten soll als bisher. Außerdem die öffentliche Verwaltung, wo 120.000 Beamtenstellen gestrichen werden sollen. Trotzdem wird natürlich alles besser - nur ohne Geld. Beispielhaft dafür steht der Vorschlag, allen Schulkindern kostenlosen Nachhilfeunterricht zu garantieren. Nicht etwa vom Staat bezahlt, denn der muss ja sparen. Nein, Macron zählt auf die ehrenamtliche Arbeit von Rentnern und Studierenden. Ob man aufgrund von Freiwilligkeit eine Garantie für alle Schulkinder herstellen kann?

Wenn es hingegen um Vorteile für die Wirtschaft geht, wird das Programm wiederum erstaunlich konkret. Unternehmen sollen in der nächsten Legislaturperiode zehn Milliarden weniger Steuern bezahlen. Für alle Angestellten, die den Mindestlohn erhalten, werden die Firmen vollständig von den Arbeitgeberbeiträgen befreit, und somit doppelt entlastet. Im Umkehrschluss heißt das aber nicht, dass Mindestlohnempfänger etwas von dieser Entlastung abbekommen. Das attraktive Wahlversprechen der insgesamt "20 Milliarden weniger Steuern" betrifft also nicht die privaten Haushalte, geschweige denn Geringverdiener.

Ziel sei es, "das Arbeitsrecht an Firmen und deren Größe anzupassen", heißt es in dem Programm. Weitere Begünstigte sind die Polizei, die mehr Machtbefugnisse erhalten soll, und das Militär, dessen Etat auf zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes angehoben werden soll.

Obwohl das Programm des Parteilosen sehr wirtschaftsfreundlich ist, behauptet Macron von sich selbst weiterhin, "gegen das System" zu sein. Er sei anders als alle anderen, betont er bei etlichen Medienauftritten immer wieder.

Kann Emmanuel Macron Marine Le Pen aufhalten?

Bisher klappt dieses Spiel ganz gut. Seit der rechtskonservative Präsidentschaftskandidat François Fillon wegen eines Justizskandals immer weniger beliebt ist, stehen die Chancen für Macron laut jüngster Umfragen sogar immer besser. Demnach würde alles auf eine Stichwahl zwischen Macron und der rechtsextremen Kandidatin Marine Le Pen hinauslaufen.

Die letzte Chance gegen Marine Le Pen?

Würde Macron sich gegen sie durchsetzen? Umfragen und Medien sagen: ja. Aber unvorhergesehene Ereignisse wie die Brexit-Entscheidung der Briten oder der überraschende Wahlsieg des Donald Trump in den USA mahnen zur Vorsicht bei Prognosen über den Ausgang der Wahlen. Das mögliche Szenario eines Duells Macron - Le Pen ähnelt dem US-Wahlkampf nur all zu sehr. Auf der einen Seite ein rechtsextremer Kandidat - damals Trump, heute in Frankreich Le Pen - den niemand ernst nehmen will. Auf der anderen Seite ein Kandidat - damals Clinton, heute in Frankreich Macron - dem der Sieg vorausgesagt wird, der nicht so wirklich links und nicht so wirklich rechts ist, wohl aber für das von Vielen gehasste Establishment steht. Dass sich hinter dem alternativ-revolutionären Schafspelz ein finanzmarktnaher Wolf versteckt, könnte Macron womöglich noch zum Verhängnis werden: Marine Le Pens Diskurs gegen die Politik der Elite befeuert es allemal.

Laut Umfragen von Mitte März würde Macron sich in einer Stichwahl mit 60 Prozent gegen die rechtsextreme Kandidatin durchsetzen. Der Tenor der Medien ist daher: Macron ist die letzte und sicherste Rettung vor der rechtsextremen Marine Le Pen. Ob die Rechnung dieses Mal aufgeht?

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