Ein Hinterhof in Tel Aviv. Der Tisch mit den Rezensionsexemplaren steht, die Bar ist aufgebaut. Die Gäste kommen langsam. "Israelis kommen gerne etwas später", beschwichtigt der Redakteur Itamar Gov und wippt aufgeregt umher. Der DJ spielt "Leider geil" von Deichkind, dann arabischen Elektro. Vor ihm windet sich ein israelischer Performance Künstler auf dem Boden und sucht sein Hemd. Wir könnten jetzt auch gerade in Berlin stehen. Oder irgendwo in Hamburg.
Aber dieser Abend will mehr sein als Hotspot für ein paar Hipster, die in einem Hinterhof ein neues Magazin bestaunen. " Aviv" ist das erste bilinguale Kunstmagazin, das israelische, deutsche und arabische Autoren versammelt und jeweils in deutsch und hebräisch übersetzt. Und es erscheint in einer Zeit, in der sowohl in Europa als auch im Nahen Osten heftige nationalistische Debatten blühen.
"Aviv" (deutsch: "Frühling") ist das brainchild des Deutschen Hanno Hauenstein und des Israelis Itamar Gov. Das Magazin ist ein Experiment. Was macht das mit einem Text, wenn man ihn in einer Sprache jenseits des nationalen Kontextes liest? "Wir wollen Kunst und Literatur von Nationalismus loslösen und gucken, was es an hebräischer Kultur jenseits von Israel gibt und umgekehrt", sagt Gründer Hauenstein.
Ein sprachliches Experiment
Und so sind im Heft die deutschen und hebräischen Seiten nie identisch. Zwar bleibt es einer klaren Typografie treu, die Bildsprache aber ändert sich fließend. Zum Beispiel im Reisebericht von Yael Bartana. Für ihren Film "Pardes" reist die israelische Künstlerin zusammen mit dem Künstler Michael Kesus Gedalyovich zu einem "Ayahuasca Retreat" in den brasilianischen Regenwald.
Unter dem Einfluss der Droge Ayahuasca philosophiert Bartana schließlich über Glauben und jüdische Mystik. Auf der deutschen Seite des Magazins wird die Geschichte mit Schwarz-Weiß-Fotos aus dem Film bebildert. Auf der hebräischen Seite sehen wir hingegen Bilder, die Gedalyovich vor Ort im Rausch gemalt hatte. Form und Inhalt bedingen sich gegenseitig.
Damit soll auch optisch widergespiegelt werden, dass eine Übersetzung textlich nie identisch mit dem Original sein kann, sondern stets ein neues Produkt schafft. Keine nachrangige Abweichung, sondern eine eigenständige Variante. Sprachliche Subtexte und Konnotationen gehen verloren, andere kommen hinzu. "Am Ende haben wir zwei völlig verschiedene Werke", sagt Hauenstein. "Und diese Ungleichheiten muss man auch nicht auflösen, finde ich. Man kann sie auch einfach aushalten".
Das ist postmoderne Spielerei, könnte man einwenden. Ein willkürliches anything goes. Oder aber es ist die Einsicht in das, was die Postmoderne nach Jean-François Lyotard zu zeigen versuchte: dass Sprache, Denken und Kontext sich gegenseitig beeinflussen.
"Vor allem die sprachlichen Beziehungen zwischen Deutsch und Hebräisch werden gerne vergessen", sagt Hauenstein. Im Fokus der Debatte stünden heute eher die politischen und historischen Beziehungen. Deutschland auf der einen Seite, Israel auf der anderen. "Aviv" will aber zeigen, dass es nicht gegensätzliche Seiten sind, die da im Dialog stehen, sondern Sphären, die sich längst durchdrungen haben. "Lesen wir eine Geschichte, die auf dem Hamburger Süllberg spielt, auf hebräisch", fordert Hauenstein.
Das Heft fragt nicht nach kulturellen Beziehungen, es zeigt sie.
"Einer unsere Autoren wurde in Ramallah geboren und lebt heute in Deutschland. Dass er für 'Aviv' schreibt, kann man natürlich als politisches Statement werten. Man kann es aber auch lassen und sich einfach auf den Text konzentrieren, die Sprache und ihre jeweilige Übersetzung", sagt Hauenstein.
Ist das noch Hipstertum oder schon intellektuelle Diskussion? Da muss Itamar Gov schmunzeln und sagt dann selbstbewusst: "Wir bedienen natürlich den Hipster und den schöngeistigen Kosmopoliten. Gleichzeitig aber unterstützen wir mit unserem Konzept auch eine intellektuelle Debatte, die vielleicht aktueller denn je ist."
Israel hat schon liberalere Jahre erlebt, die linke Kunstszene in Israel wird immer überschaubarer. Der Staat rückt nach rechts und Dialoggruppen und NGOs werden von der Regierung attackiert, sie kollaborierten mit dem Feind. In der politischen Debatte ist das Verhältnis zwischen Israel und Deutschland angespannt, gelinde gesagt.
Und dann steht da auf der anderen Seite, so scheint es, dieses hedonistische Liebespaar Tel Aviv und Berlin, das sich auf Schöngeistigkeit verständigt hat und nichts mit Politik zu tun haben möchte. So zumindest das Klischee. Aber Hauenstein und Gov wollen solche Trennungen gar nicht erst vornehmen. Ihnen geht es um die Kunst.
Auf dem Hinterhof an der Ibn Gabriol Straße tummelt sich also die "Resistance" und nippt am Gin. Unter ihnen zum Beispiel Roy Hasan, den die israelische Zeitung "Haaretz" den "hebräischen Poeten unserer Generation" nennt. Der 33-Jährige ist Mizrahi, das heißt: Er ist arabischer Jude. Hasan wuchs in bescheidenen Verhältnissen auf und setzte sich dann, beeinflusst von Jazz und Hip-Hop, als Künstler durch. Er gehört heute der jungen Künstlergruppe "Ars poetica" an, in der sich arabisch-jüdische Schriftsteller gegen die europäischstämmige Elite auflehnen.
"Wir wollen junge und zeitgenössische Stimmen, Autoren, an die wir selber glauben und die wir daher auch recht subjektiv auswählen", sagt Hauenstein. Dennoch sind auch ein paar bekanntere Namen wichtig, um die Aufmerksamkeit zu erhöhen. Und so steht in der Pilotausgabe von "Aviv" Roy Hasans Kurzgeschichte "Am Ende war Meer" gleichberechtigt neben einem Text von Maxim Biller, dem deutschen Journalisten und Schriftsteller.
Das Konzept von "Aviv" schränkt die Leserschaft natürlich ein. Es ist kein Massenheft. "Aber ich glaube, dass auch augenscheinlich ökonomisch sinnlose Projekte wichtig sind", sagt Hauenstein. Der Performance-Künstler Ariel Cohen hat inzwischen sein Hemd gefunden und zieht sich wieder an. Die Lesung beginnt. Etwa 70 Gäste lauschen den Texten. Es ist Frühling.