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"Kinder": Wie es ist, in Berlin aufzuwachsen

"Hey, ich hab mal Lucky Blocks für YouTuber gespielt, das ist so ein Lucky Block Mod. Und das kennst du ja schon: Keine Fantasia-Rüstung bei Fantasia Lucky Blocks und es gab keine Troll Lucky Blocks", berichtet Arthur seinem Freund aufgebracht. Arthur ist zehn Jahre alt und läuft mit seinen blauen Kopfhörern auf dem Kopf neben seinem Freund durch Berlin.

Ein Jahr lang hat Nina Wesemann Arthur, Emine, Christian und Marie mit der Kamera begleitet und einen Film daraus gemacht. Wenn man ihnen zuhört, bekommt man manchmal den Eindruck, sie kommen von einem anderen Stern.

Der Film führt sie zusammen, doch eigentlich wären sich die Kinder vermutlich nie begegnet. Sie kommen aus unterschiedlichen Stadtteilen Berlins: Marie wohnt in einer Einfamilienhaus-Siedlung mit ordentlich geschnittenen, immergrünen Hecken, gepflasterten Fußwegen und Einfahrten am Rande der Stadt. Emine fühlt sich in den gelben Berliner Bahnen pudelwohl und übt darin selbstbewusst neue Musikvideo-Moves.

Dann wäre da noch der Atomkrieg

Man ist dabei, wie Marie verlassene Abrisshäuser durchstreift, Christian in aller Seelenruhe eine Packung Sushi an der Spree verdrückt und Emine akkurat im Kunstunterricht ein Iglu mit Blautönen ausmalt. Das Weltgeschehen geht trotzdem nicht ganz unbemerkt an ihnen vorbei.

Es ist urkomisch und anrührend zugleich, wenn der zehnjährige Arthur seiner sechsjährigen Schwester Juno eine Kurzeinführung in transatlantische Politik gibt, als er erläutert, dass Donald Trump seiner Meinung nach einen Atomkrieg beginnen will - "theoretisch". Und das wolle er auf gar keinen Fall.

Juno: "Wieso?

Arthur: "Weil dann die Erde echt verletzt werden kann."

Juno: "Und auch du?"

Arthur: "Die Erde wird dann zerstört."

Juno erschreckt sich: "Oh, nein! Wann wird die Erde denn zerstört?"

Arthur: "Das weiß man nicht."

Juno: "Ich will nicht sterben."

Arthur: "Es muss nicht sein, dass wir sterben, aber es kann schon gut sein, theoretisch."

Juno: "Was bedeutet theoretisch?"

Arthur: "Theoretisch heißt 'vielleicht'."

Daraufhin zerschnibbelt Arthur mit der Küchenschere das Abbild einer USA-Flagge.

Der Tod beschäftigt die Kinder

Tod und Krieg - diese ernsten Seiten scheinen in dem Bild der zauberhaften und ungezwungenen Kindheit, das Wesemann in ihrem Film malt, immer wieder durch. Das war auch bei ihr mit zehn Jahren ähnlich, sagt Wesemann im DW-Interview: "Ich hatte diese Fragen im Kopf, die sich mit dem Thema Tod beschäftigt haben. Ich habe mich gefragt: Woran stirbt man? Wann, warum und was ist danach?"

Man sieht, dass diese Themen die jungen Protagonisten bewegen. Allerdings finden sie weit weg von dem statt, was der Film aus ihrer Lebensrealität zeigt. Auch andere ungemütliche Seiten der Kindheit spart Wesemann völlig aus: Weder Leistungsdruck in der Schule, noch Konflikte mit den Eltern, Krankheiten oder Familienprobleme spielen eine Rolle. Es bricht zwischen Arthur und seinen Geschwistern mal ein Streit um die Spaghetti aus und Christian hat "keinen Bock zu verkacken", wenn er mit seinen coolen, älteren Brüdern sein erstes Graffiti an die Wand sprüht. Insgesamt ist alles jedoch versöhnlich friedlich. Da wird's einem fast ein bisschen schwer ums Herz, wohl wissend, dass diese vermeintlich unbeschwerte Lebensphase der Kinder bald enden wird.

Wesemann beschreibt es so: "Mit einem Bein sind sie noch voll in der Kindheit und können das noch total leben. Und mit dem anderen Bein fängt etwas anderes an und sie treten in eine andere Welt über."

Keine Eltern weit und breit

Im Film gibt es keinen Sprechertext; nichts wird eingeordnet oder kommentiert. Die Kamera, die ebenfalls von Nina Wesemann geführt wird, begleitet die vier stets auf Augenhöhe. Doch im Film interagieren die Kinder nicht mit ihr. Als Zuschauer bekommt man den Eindruck, als wäre man einfach unbemerkt unter ihnen und kann unbeobachtet lauschen, wenn sie die ersten Gitarrenakkorde von Ed Sheeran klampfen und ausprobieren, wie weit man eine Rolle mit Klebeband abrollen kann, wenn man sie, das eine Ende gut festgehalten, aus dem Fenster wirft.

Es sind keine Erwachsenen weit und breit zu sehen, niemand wird gemaßregelt, zurechtgewiesen oder ausgeschimpft. Nach 77 Filmminuten hat man fast vergessen, dass es noch Erwachsene auf der Welt gibt.

Mit dem Abschlussfilm zur Berlinale

Wesemann hat es gleich mit ihrem Abschlussfilm, den sie an der Hochschule für Fernsehen und Film München produziert hat, auf das internationale Filmfest Berlinale geschafft. Bei der Premiere in der Sektion Generation sind sich Emine, Marie, Christian und Arthur und ihre Freunde dann das erste Mal begegnet. "Ich habe mich oft gefragt, wie ich sie zusammenführe und wie dieses erste Treffen aussieht", sagt Wesemann. Eine gewisse Distanz und leichte Skepsis seien dann schon da gewesen, kommentiert sie mit einem Lächeln. Aber auch eine Art Grundsympathie.

Was sie über den Film wohl sagen werden, wenn sie dieser wunderbar freien Welt des Kindseins in Berlin entwachsen sind? "Also, ich glaube, in zwei Jahren werden sie es sehr peinlich finden. Und in zehn hoffe ich, dass sie sich wieder freuen; dass es dann so etwas ist, wie ein schönes Dokument von dieser Zeit."

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