Erschienen: 15. Mai 2018
Die Polizei stürmt zwei Nachtclubs in Tiflis. Danach protestieren Tausende vor dem georgischen Parlament. Michail Stangl, Chef der Techno-Plattform Boiler Room, über die Gründe und politischen Rave.
In der Nacht von Freitag auf Samstag stürmten schwerbewaffnete Sondereinheiten die elektronischen Musikklubs Bassiani und Café Gallery in Georgiens Hauptstadt Tiflis. Sie nahmen mehr als 60 Feiernde sowie die Besitzer der Klubs fest und drängten den anschließenden Protest gewaltsam zurück. Tausende versammelten sich darauf vor dem Parlamentsgebäude in Tiflis zu einem Protestrave, es gab internationale Solidaritätsveranstaltungen.
Dass es bei den Razzien allein um Drogendealer gegangen sein soll, hält Michail Stangl, Deutschlandchef der Techno-Plattform Boiler Room, für einen Vorwand der Politik. Der Berliner mit russischen Wurzeln hat selbst schon in Tiflis Partys veranstaltet und ist überzeugt: Der Protest der Feiernden hat revolutionäres Potenzial.
WELT: Wie kann man sich die Klublandschaft in Georgien vorstellen?
Michail Stangl: Georgien und Tiflis sind ziemlich unglaublich. Obwohl das Land keine 4 Millionen Einwohner hat, gibt es in der Hauptstadt vier Klubs, in die jeweils 3000 Menschen passen. Es wird oft gesagt, dass nicht mehr das Berghain der wichtigste Klub der Welt sei, sondern das Bassiani in Tiflis. Elektronische Klubkultur wurde nach dem Krieg mit Russland und während des Bürgerkriegs ein Sammelplatz für junge Leute, um ein Stück Freiheit zu leben. Georgien war über Jahrhunderte hinweg besetzt und ist erst seit 15 Jahren ein verhältnismäßig freies Land. Techno ist tatsächlich der Soundtrack der Revolution. Die Szene in Tiflis ist dabei genauso international wie in Berlin. Nur sind dort nicht Franzosen, Schweden und Briten unterwegs, sondern Aserbaidschaner, Usbeken, Armenier und Iraner. Teheran ist nur eine Flugstunde entfernt. Das in Kombination mit dem sozialen und politischen Potenzial elektronischer Musik ist eine Besonderheit, die ich weltweit nur in Georgien gesehen habe.
WELT: Worin besteht dieses soziale und politische Potenzial elektronischer Musik?
Stangl: Klubkultur ist ein safe space, also ein Schutzraum für den persönlichen Ausdruck sexueller Identität und politischer Orientierung. Gerade in Ländern, in denen es mit dieser Freiheit nicht so gut bestellt ist, sind solche Räume extrem wichtig. House wurde in den schwarzen Schwulenklubs von Chicago geboren. Das liegt also in der DNA der Szene. Tschetschenien ist 200 Kilometer von Tiflis entfernt, und dort gibt es Pogrome gegen Homosexuelle. Viele junge Männer, die wegen ihrer sexuellen Orientierung gestorben wären, haben in Georgien Zuflucht gefunden.
WELT: Wie stehen die lokalen Autoritäten zur Klubkultur?
Stangl: Das Verhältnis ist ambivalent. Einerseits ist man sich bewusst, dass das steigende Interesse der internationalen Musikszene ein wichtiger Tourismusmagnet ist, ähnlich wie in Berlin. Es gibt eine Offenheit gegenüber der Europäischen Union und den Chancen, die durch Annäherung für das Land entstehen. Andererseits hat man eine konservative und zum Teil repressive Politik, die von der omnipräsenten, mächtigen orthodoxen Kirche beeinflusst wird. Es gab in der Vergangenheit schon mehrere Razzien unter dem Vorwand der Drogenprävention.
WELT: Wie sieht die aktuelle Drogenpolitik im Land aus?
Stangl: Das georgische Gesetz kennt keinen Unterschied zwischen Privatkonsum und Handel. Wenn man ein Gramm Haschisch hat, wird man als Drogendealer verhaftet und kann bis zu 14 Jahre ins Gefängnis kommen. Eine komplette Farce, wenn man sieht, wie präsent etwa Marihuana in der Gesellschaft ist. Die Gesetzeslage ist unproportional, nicht zeitgemäß und repressiv. Es gibt seit Jahren Gespräche, unter anderem mit dem White Noise Movement, die im Anschluss an die Razzien auch die Proteste vor dem Parlament mitorganisiert haben. Deren Chefaktivist Beka Tsiskarishwili hat am Sonntag mit dem Innenminister über eine Aktualisierung und Dekriminalisierung der Gesetzeslage verhandelt. Es hätte genügend Möglichkeiten für die Politik gegeben, mit Vertretern der Klubkultur zu sprechen und eine Eskalation zu vermeiden. Man hat den Dialog aber nicht gesucht, sondern mit der Razzia einen politisch motivierten, symbolischen Akt vollzogen.
WELT: Die Polizei nennt den Tod von fünf Menschen, die in den letzten drei Wochen durch Drogenmissbrauch gestorben sind, als Grund für die Razzia.
Stangl: Das ist ein komplett vorgeschobener Grund. Klar, da waren plötzlich diese schlechten Drogen, angeblich war es Fentanyl, was 100 Mal stärker als Heroin ist, und Leute sind gestorben. Aber im Jahr 2018 sollte man so weit sein, dass man nicht durch eine Razzia in einem Klub die Drogenproblematik löst. Der Klub war den Autoritäten sowieso ein Dorn im Auge. Soweit ich weiß, haben die Drogentoten nichts mit dem Bassiani direkt zu tun. Sie sind nicht im Klub oder davor gestorben, das steht nicht in direkter Verbindung.
WELT: Das schrieb der Klub auch in einem Statement vom 7. Mai. Weiterhin hieß es da, dass die Politik durch diesen Umgang mit Drogenkriminalität die Tragödie überhaupt erst verursache. Warum?
Stangl: Es hat sich gezeigt, dass die Kriminalisierung des Drogenkonsums kontraproduktiv ist und den gegenteiligen Effekt hat. Ein liberales Verhältnis wie in Holland oder Portugal hilft, die Problematik zu adressieren, zu kontrollieren und positiv zu beeinflussen. Georgien erfährt gerade, wie viele andere Länder, einen Rechtsruck. Es ist ein Land krasser sozialer Gefälle, neben dem weltoffenen Tiflis gibt es Bergdörfer, in denen sich das Leben in den letzten 150 Jahren kaum verändert hat. Zudem hat die orthodoxe Kirche einen großen Einfluss. Es gab Fälle, wo orthodoxe Priester mit Knüppeln auf Homosexuelle losgegangen sind. Das ist zum Teil religiöser Extremismus.
WELT: Wie schätzen Sie die politische Dimension dieses Vorfalls ein?
Stangl: Das ist womöglich der wichtigste Moment, den elektronische Musikkultur je erfahren hat. Alles was elektronische Musik an sozialem und politischem Potenzial hat, hat sich in den Protesten der letzten zwei Tage manifestiert. Einerseits, weil dort liberale Werte zum Ausdruck gekommen sind, andererseits auch der Selbstorganisationsgrad, auf dem die Szene gründet. Wenn du spontan 10.000 Leute für einen Rave mobilisieren kannst, kannst du auch 10.000 Leute für politischen Protest mobilisieren. Es geht doch nur vordergründig um Drogen. Es geht um viel mehr. Das ist ein sozialer Protest für Menschenrechte, in dem sich ausdrückt, was schon lange brodelt. Die lokalen Autoritäten haben das offensichtlich unterschätzt, die dachten, sie vermöbeln ein paar Drogendealer und Raver, machen da reine und haben einen schönen Propaganda-Erfolg. Sie haben aber unterschätzt, dass das eben nicht nur Partykultur ist. Das ist eine soziale Bewegung.
WELT: Wie geht es jetzt weiter?
Stangl: Mittlerweile sind alle aus der Haft wieder entlassen worden. Die Demonstranten haben gefordert, dass sowohl der Ministerpräsident als auch der Innenminister zurücktreten. Der Innenminister Giorgi Gakharia hat sich entschuldigt und versprochen, die Razzien aufzuklären und andererseits einen Fahrplan zu entwickeln, wie die Entkriminalisierung des Drogenkonsums angegangen werden kann.
WELT: Also ist jetzt alles gut?
Stangl: Meiner Meinung nach versucht die Regierung sich auf die Drogenthematik zu fokussieren, um jedes weitere Momentum, das in den Protesten steckt, abzuwürgen. Wovor ich auch Angst habe, ist die Tatsache, dass nach zwei Tagen friedlichen Ravens vor dem Parlament gewaltbereite Rechte aufgetaucht sind und die Demonstration auslöschen wollten. Eine Demo, wo Kinder, Mütter und Frauen und alte Leute waren! Die Polizei musste sich zwischen die Rechten und die zivilgesellschaftliche Demo stellen. Es gibt brutale rechte Kräfte im Land. Jetzt war es vielleicht nur die Polizei, die diese Razzia durchgeführt hat. In Russland war ich 2007 in einem Klub, vor dem Rechte mit Baseballschlägern und Molotowcocktails standen. Das kann noch umschlagen.
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