Erschienen: 18. April 2018
Seid umschlungen, Millionen: Tocotronic beenden ihre Album-Tour in Berlin mit ganz großen Gesten. Ihre Provinz-Hymnen lösen 90er-Nostalgie aus, selbst wenn man diese Zeit gar nicht miterlebt hat.
Er ist das liebste Kind des Feuilletons: der Generationenbegriff. Mit ihm lässt sich die Nachkriegsjugend so treffsicher wie pauschal beschreiben, ordentlich gefaltet in engen Schubladen. Auf die kämpferischen 68er folgten in Deutschland die desillusionierten Babyboomer, auf die wohlstandsverwöhnte Generation X dann die Millennials, über deren selbstgerechte Anspruchshaltung schon genug gelästert wurde.
Wenn also jede Generation alle zehn, 20 Jahre mit der verhasst gewordenen Elterngeneration bricht, stellt sich beim Abschlusskonzert von Tocotronic in der Berliner Columbiahalle die Frage: Was soll ich hier eigentlich? „1993" heißt einer der besten Songs auf „Die Unendlichkeit", dem zwölften Album der Hamburger Band. Darin besingt Frontmann Dirk von Lowtzow selig das Jahr, in dem er endlich die provinzielle „Schwarzwaldhölle" hinter sich ließ und in Hamburg ankam, „Haare im Gesicht, der Wind von Altona".
Der Song ist Leitmotiv von „Die Unendlichkeit", der musikalischen Autobiografie der Väter der Hamburger Schule, mit der sie nostalgisch auf 25 Jahre Bandgeschichte zurückblicken. 1993 kam ich gerade in den Kindergarten, zwar auch in der süddeutschen Provinz, vom Aufbruch in die Großstadt aber noch keine Spur. Das Publikum hier gehört daher tatsächlich fast zur Generation meiner Eltern. Unter einigen obligatorischen Trainingsjacken zeichnet sich der Bauchansatz ab, die Schläfen der in Lowtzow-Manier zur Seite geworfenen Undercuts sind angegraut.
Als aber die Vorband Ilgen-Nur ihren rumpeligen Slacker-Song „Cool" anstimmt, wird klar, dass es egal ist, wie alt man ist, weil sowieso alle den selben Mist durchmachen müssen. „Just because I'm 20, doesn't mean I know what to do", klagt Sängerin Ilgen-Nur Borali und gesteht, dass sie doch nur cool sein will, sich aber wie ein Idiot vorkommt. Besser hätte man den Abend kaum einleiten können. Die Wahlhamburgerin kommt übrigens aus Stuttgart.
Es folgen zwei Stunden herrlich großer Gesten und 25 Jahre Bandgeschichte im Zeitraffer. Zu Sergei Prokofjews „Rittertanz" aus dem Ballett „Romeo und Julia" betreten Tocotronic die Bühne wie Gladiatoren die Arena. „Endlich Berlin", ruft von Lowtzow aufatmend. Aus Freude über ihre treuen Fans, die sogar das Zusatzkonzert ausverkauft haben oder aus Erleichterung, drei Wochen Tour überstanden zu haben? Wahrscheinlich beides.
Unterm Sternenhimmel einer Discokugel stimmt die Band „Die Unendlichkeit" an und sinniert über das ewigen Streben nach dem „Weiter", das einen nie loslässt. Sorry, Ilgen-Nur, es wird wohl nie viel einfacher! Und das ist gut so.
Nach dem Liebeslied an seine „Electric Guitar", kommen Tocotronic schnell weg vom Heute zurück in die wilden 90er. Bei „Let There Be Rock " fliegen die ersten Plastikbecher und bei „Drüben auf dem Hügel" vom ersten Album „Digital ist Besser" liegt man sich nach 15 Minuten Konzert selig in den Armen.
Ohne dass es peinlich wirkt, kann der 47-jährige von Lowtzow über seine Jugendliebe singen, die er auf eben jenem Hügel erwartet „an unserem letzten Sommerferientag". Nahtlos geht „Ich bin viel zu lange mit euch mitgegangen" in „Hey Du" über, als lägen dazwischen keine 19 Jahre und acht Alben. Die Skinny-Jeans und die typische Haare-aus-den-Augen-wischen-Pose steht von Lowtzow so lässig wie eh und je.
25 Jahre in der nahezu gleichen Besetzung Musik machen zu können, ist der Musikertraum. Fans zu haben, für die diese Bandgeschichte seit 25 Jahren Teil ihrer eigenen Biografie ist, in der schnelllebigen Musikwelt kaum noch denkbar. Ja ja, Kinder, der Tod ist gar nicht so schlimm. Aber schlimmer als die Nostalgie für die eigene Vergangenheit, ist die Nostalgie für eine kollektive, die man selbst nicht miterlebt hat. Einer der wenigen Punkte, die ich in der unsäglichen Generation-Y-Debatte unterschreibe.
Deshalb lasse ich mich mitreißen in den Sog der Unendlichkeit, der auch nach zwei Zugaben nicht vorbei sein soll. Ich weine dem unbekannten Seemann in Ingrid Cavens Chanson „Die großen weißen Vögel" bereitwillig eine kleine Träne nach. Seid umschlungen, Millionen! Und als Tocotronic zum Abschluss die Antihymne „Freiburg" anstimmen, habe ich ihnen fast verziehen, dass sie „1993" nicht gespielt haben.
Original