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TONIC - Franz Biberkopf ist Schwarz

Fluchtszenen.

Ein Schwarzer zwischen Weißen, ein Flüchtlingswohnheim in Berlin, Drogenhandel.

Masken. Frauen. Pistolen.

Frei nach dem Roman Alfred Döblins ist der Film Berlin Alexanderplatz, der am 16. Juli in die deutschen Kinos kommt. Was das Publikum in diesem Film nicht sehen wird, ist ein weißer Protagonist Franz Biberkopf, gerade aus dem Gefängnis entlassen. Stattdessen sieht es Francis, gespielt vom in Guinea-Bissau geborenen Schauspieler Welket Bungué.

"Frei nach" bedeutet, die Basis des 1929 erschienen Romans ist noch da. Die Hauptfigur wird versuchen, ein guter Mensch zu sein.

Die Welt, Berlin, wird ihn nicht lassen.

"Frei nach" heißt auch, die Geschichte spielt heute.

Und Franz Biberkopf ist Schwarz.

„Es dauert nur ein paar Augenblicke", sagt die Journalistin Margarete von Schwarzkopf, die „Berlin Alexanderplatz" auf der Berlinale gesehen hat. Dann habe sie sich an den neuen Franz Biberkopf gewöhnt. Da habe sie nur noch den faszinierenden Film bewundert.

Dennoch bleiben die Augenblicke, in denen das Publikum verwirrt blinzelt. Die haarsträubenden Fluchtszenen zu Filmbeginn, das Flüchtlingswohnheim. Sie sind das eindeutige Zeichen dafür, dass unter der Regie von Burhan Qurbani etwas passiert ist, das nicht oft passiert. Die Besetzung von Rollen gegen den Strich - also anders, als es in der Vorlage steht oder wie sie tradiert auf eine bestimmte Weise besetzt wurden, ist nach wie vor so selten, dass sie auffällt. Da schwingt immer noch die Frage mit: Gehören Geschlecht, ethnische Herkunft und Aussehen nicht fest zu einer Rolle?

Dem Argument, dass nur in klassischer Besetzung einem Werk die Treue gehalten werde, steht der Frage nach gesellschaftlicher Verantwortung gegenüber. Ist es nicht Aufgabe von Theater und Film, die Gesellschaft abzubilden und zu hinterfragen?

Eine Frau spielt Franz Moor

Ein ganz anderer Franz steht auf der Bühne des Bonner Theaters.

Es ist Friedrich Schillers Franz Moor aus dem Stück . Gegen seinen Bruder Karl buhlt Franz um die Anerkennung seines Vaters. Während dieser Karl in der Bonner Inszenierung meist als oberkörperfreier Mann mit Rußflecken auftritt, trägt Bruder Franz roten Zopf und Kleid. Franz Moor wird von einer Frau gespielt.

Auf der Bühne ist Schauspielerin Annika Schilling zur Faust geballte Energie, ihr*e Franz Moor ist von Missgunst zerfurcht. Die 35-Jährige spielt zum ersten Mal eine Rolle, die als Mann gedacht war, als Frau. Davor hat sie schon mal mit Bart auf der Bühne gestanden, hat also einen Mann gemimt. Der Rollencharakter selbst blieb davon aber unberührt. Dieses Mal ist das anders. Auch wenn Franz in der Besetzungsliste noch als Franz aufgeführt ist, ist in den Proben immer mal wieder eine „Franziska" oder „Franzi" daraus geworden, erzählt Schilling. Im Stück selbst wird der Name nicht erwähnt.

Schilling sagt, sie habe den Text „anders entwerfen" müssen für ihre*n Franz Moor. Aus der Figur habe sie herausholen wollen, was an geschlechterfreien Themen in ihr steckt. Schilling nennt das „Essenz", im Falle der Räuber ist das Franz' Minderwertigkeitskomplex. „Daraus ergibt sich dann schon ein ganz anderer dramaturgischer Umgang", meint Schilling. Sie habe aber auch gemerkt, wie nebensächlich es für die Figur an sich eigentlich sei, dass Franz im Original männlich ist. Die einzigen Schwierigkeiten waren die Szenen mit Amalia, der Geliebten des Bruders: „Schiller entwirft da ein Katz-und-Maus-Spiel, das viel mit sexueller Begierde und Macht zu tun hat, mit sado-masochistischen Spielereien, in denen Franz seine Männlichkeit austestet." Stattdessen sieht man jetzt auf der Bühne den Versuch einer anbiedernden Freundschaft, der trotzdem nichts an Spannungsverhältnis verliert. Der Druck der Szene baue sich auch auf geistiger Ebene auf, meint Schilling: „Das Entscheidende ist, dass der Grundkonflikt nicht kleiner wird, dass die Figuren sich trotzdem aneinander abarbeiten können."

Rassismus in der Fanbase von "The Witcher"

In der Netflix-Serie The Witcher treten Schwarze Schauspielerinnen auf, obwohl in der Buchvorlage von Andrzej Sapkowski ausschließlich Charaktere slawischer Herkunft vorkommen.

Daniel Illger ist Professor für Film- und Medienwissenschaft, derzeit an der Freien Universität Berlin. Er hat sich in den letzten Jahren viel mit Fantasy-Reihen beschäftigt und kennt die Debatte der Rollenbesetzung.

In der Fankultur von The Witcher und der Hexer-Buchreihe erkennt Illger die Debatte um Werktreue wieder. Das unveränderte Übernehmen der Prämissen, die ein Roman setzt, ist vielen Fans sehr wichtig. Das zeigt sich auch in Kommentarspalten und Fan-Websites.

Auf der einen Seite findet sich eine Art Aneignung, zum Beispiel das Weiter- und Umschreiben des Ursprungsmaterials bei Fan-Fiction, auf der anderen Seite ein Besitzanspruch, der die Exaktheit der Werktreue verteidigt und von dem Illger sagt, er sei „etwas zweifelhaft und durchaus politisch aufgeladen."

Im Falle des Witchers zeigt sich das in der Angst der Fans vor einer „Hollywoodisierung" und vor dem Verlust des typisch Slawischen der Romanvorlage, etwa mit der Besetzung des weißen US-Amerikaners Henry Cavill in der Titelrolle. Illger spricht von einer „seltsam identitären Festschreibung, die nichts mit der Autor-Aussage zu tun hat." Er hält das prinzipielle Festhalten an der Werktreue für nicht produktiv: „Es ist das Recht, in gewisser Weise sogar die Pflicht von Kunstschaffenden, die ein Werk von einem Medium ins andere übertragen, dass das Werk in diesem Medium lebendig wird." Wo Schauspielerin Schilling von „Essenz" spricht, spricht er von der „Poetik" des Werkes, die gewahrt werden soll, die Idee hinter allem, die nach wie vor funktionieren muss.

Beides erinnert an die Methode des Schauspielers und Regisseurs Michael Tschechow, der seine Schauspieler auf eine spezielle Art das Einfühlen in den Bühnencharakter lehrte - durch bildhaftes Denken, so lange, bis ein bis ein innerer Dialog zwischen beiden entstehen sollte, der die weitere Gestaltung der Rolle in Gang setzte. Dozentinnen des Michael Tschechow Studios Berlin betonen, dass auch ganz unabhängig von solchen Methoden die Fantasie jeder Einzelnen die Grundlage für die Einfühlung in eine Rolle ist.

Zunächst einmal werden wir sehen, daß unsere Methode einen Schlüssel darstellt, unsere eigene Natur besser zu verstehen. All diese verschlossenen Türen, hinter denen wir Hitler finden werden, den wir im Griff haben und beherrschen, und Franz von Assisi, der uns inspiriert. Unsere eigene kreative schauspielerische Natur ist Teil unseres Willens.

Warum werden so viele Rollen trotzdem so Holzschnitt-artig besetzt? Anfang 2020 zerschlugen sich die Hoffnungen auf einen weiblichen James Bond. Die Produzentin Barbara Broccoli erklärte dem Branchenblatt Variety, der Martini-schlürfende Agent 007 könne in Zukunft durchaus eine andere Hautfarbe haben; er bliebe aber männlich. Sie sagte außerdem, es müssten vielmehr neue weibliche Rollen geschaffen werden, anstatt traditionell-männliche umzubesetzen.

Fakt bleibt, leider: Viele traditionelle Hauptrollen sind als Mann konzipiert. Auf der Bühne sogar noch mehr als auf der Leinwand. Frauen sind Geliebte, Mütter oder schmückendes Beiwerk. Oder gleich alle drei. Und die meisten westlichen Hauptrollen sind traditionell weiß.

Nötiger Mut und Rollen, die niemand spielen muss

Auf der Berlinale waren die Kritiker größtenteils begeistert vom neuen Berlin Alexanderplatz. Die Journalistin Margarete von Schwarzkopf war eine von ihnen. „Diese neue Adaption hat heute unter modernen Gesichtspunkten durchaus ihren Reiz und ihre Berechtigung", sagt sie. Die Grundkonstellation bliebe ja dieselbe wie in Döblins Roman, ähnlich wie Rainer Werner Fassbinders Adaption von 1980 ist die Geschichte eine Milieustudie. Aber: „Wer Döblin und Fassbinder nicht kennt, der sieht einen völlig anderen Film."

Von Schwarzkopf hält das aber keineswegs für eine Schwäche. Natürlich habe es Stimmen aus den konservativen Reihen gegeben, die genörgelt hätten, „wo denn der gute alte Döblin geblieben sei", was das noch mit Berlin Alexanderplatz und Franz Biberkopf zu tun habe. Sie waren in der Unterzahl.

Margarete von Schwarzkopf sagt, vielen Regisseuren fehle der Mut. Die wenigen kritischen Stimmen zu Berlin Alexanderplatz seien genau die, für die weiterhin werktreu produziert werde. Vielleicht spielt es eine Rolle, dass Burhan Qurbani selbst aus Afghanistan stammt. „Er hat den Mut gehabt, auch Außenseiterinnen in seine Filme zu holen", sagt von Schwarzkopf. Für sie gilt in der Frage der Umbesetzung: „Wenn es gut gemacht ist, dramaturgisch gut gemacht, kann man sich als Zuschauer auf vieles einlassen."

„Gesetzt, man tut es klug, gibt es keine Grenzen."

Es gibt weitere prominente Erfolgsbeispiele: 2017 wurde Jodie Whittaker als erste weibliche Hauptdarstellerin zum neuen Doc in der BBC-Serie Doctor Who bekanntgegeben. Die Schauspielerin sagte in einem Interview mit der BBC, es fühle sich unglaublich an, als Feministin, als Frau, als Schauspielerin, „ not be boxed in by what you're told you can and can't be. "

Gerade wenn Theater oder Film ihre gesellschaftliche Relevanz nicht verlieren und weiterhin das Bildungsformat sein wollen, das sie mal waren, können mit Umbesetzungen gesellschaftliche Zeichen gesetzt werden. Dazu gehört auch, gegen die sture Sichtweise der Menschen anzukämpfen, für die eine Figur eine Figur ist und so zu bleiben hat, wie sie sie kennen.

Margarete von Schwarzkopf sagt über Berlin Alexanderplatz, der Film sei gerade zu Zeiten großer Rassismus-Debatten elementar wichtig. Schauspielerin Annika Schilling mahnt in Fragen von Frauenumbesetzung: „In der heutigen Zeit, in der Beruf und Machtstrukturen allmählich sowohl von Männern als auch von Frauen gefüllt werden, muss es unabdingbar sein, dass wir genau das zeigen." Für sie gilt: „Gesetzt, man tut es klug, gibt es keine Grenzen."

Filmwissenschaftler Daniel Illger fände es dennoch unproduktiv, die Umbesetzung von traditionellen Rollen quotenmäßig durchzusetzen. Es bestünde die Gefahr, daraus einen „zahnlosen Tiger" zu machen, sagt er. „Wenn ich das verpflichtend anpasse, dann ist das dermaßen standardisiert, dass man sich fragen kann, ob das noch irgendeinen Effekt hat." So etwas wie die Frauenquote macht also laut ihm in Film und Theater keinen Sinn. Einen weiblichen 007 zu schaffen, nur damit auch mal eine Frau stoisch Autos zu Schrott fahren darf, bringt in seinen Augen wenig.

Annika Schilling sieht das ähnlich: „Ehrlich gesagt frage ich mich, ob das überhaupt irgendwer spielen muss."

Redaktion: Fabian Stark und Ann-Kathrin Canjé 
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