Ein Dorf im Norden Russlands als Erkundungsgebiet für Soziologen
Einmal im Jahr kommen im kleinen Dorf Medwedjewo im Gebiet Kostroma Soziologen, Geologen und Biologen aus ganz Russland zusammen. Sie gehen über Trampelpfade, halten Vorträge in alten Holzhäusern, unterhalten sich mit Dorfbewohnern und übernachten zusammen. Alles mit dem Ziel, um herauszufinden, was es eigentlich mit dem Dorfleben auf sich hat und warum es immer mehr Großstädter aufs Land zieht.
Von Larissa MassSchlafsäcke, Isomatten, vollgepackte Rücksäcke und müde Gesichter: Eine Gruppe von Studenten steigt aus dem Zug an der Station Manturowa - sie kommen aus den Großstädten angereist, um das „echte" russische Leben, also das auf dem Land, kennenzulernen. Für viele von ihnen ist es das erste Mal, dass sie an einem Ort aussteigen, der keinen bedeutungsvollen Namen in der Weltgeschichte hat.
Jurij Plusin, Soziologie-Professor an der Higher School of Economics (HSE) in Moskau, holt seine Studenten mit einem Minibus vom Bahnhof ab. Mit kniehohen Gummistiefeln und einem um den Kopf gebundenen Tuch ist Jurij erst auf den zweiten Blick als Professor erkennbar. Es steht ein mehrtägiges Seminar in Holzhütten an - Experten und Dorfbewohner erzählen von der Gegenwart und der Zukunft des russischen Dorfes. Von Manturowas Bahnhof geht es nach 45 Minuten Fahrt in das Dorf Medwedjewo, irgendwo im Dreieck der Städte Moskau, Kostroma und Nischnij Nowgorod. Der Minibus rappelt über unebene Straßen und an weiten Feldern am Fluss Unscha, einem Nebenfluss der Wolga, vorbei. Jurij senkt öfter die Geschwindigkeit, damit er sanft über die tiefen Schlaglöcher hinwegrollen kann und diese keinen Schaden am Auto hinterlassen. Den Führerschein hat er erst vor vier Jahren gemacht, als er sich endgültig für ein Leben auf dem Land entschied. Jetzt arbeitet er eine Woche im Monat in Moskau an der Uni, die restlichen drei ist er bei seiner Familie im Kreis Ugory.
Das kleine Dörfchen Medwedjewo, das zur Dorfregion Ugory gehört, hatte 1920 noch 200 Einwohner, jetzt zählt es nach mehreren Auszugswellen nur noch zwei bis fünf ständige Bewohner. Die anderen Häuser werden als Sommer-Datschen genutzt. Im Frühling scheint der Ort belebt, im Winter ist er wie ausgestorben.
Jurij gründete mit dem Soziologieprofessor Nikita Pokrowskij vor 15 Jahren die Veranstaltung „Projekt Ugory". Zu Beginn luden sie Studenten der Higher School of Economics privat ein, damit sie das Dorf, von dem die Professoren in ihren Vorlesungen sprachen, auch kennlernen. Sie konnten in den Hütten übernachten und zusammen die Umgebung erkunden.
„Immer wenn wir unsere Studenten fragen, wo sie hinreisen, antworten sie, dass sie schon in Paris, London, Berlin waren. Außerhalb Moskaus waren sie hinter dem Zaun ihrer familiären Datscha - aber von Russland selber haben sie noch nichts gesehen", erklären die Professoren kopfschüttelnd.
Die Teilnehmer bestätigen dies - warum sie eher nach Europa fahren, ist aus ihrer Sicht auch sehr einfach: Es ist günstiger und natürlich auch interessanter, nach einer Reise von einer fremden Kultur zu erzählen. Ein Inlandsflug kann dreimal so viel kosten, wie der Flug zu einer europäischen Metropole.
2009 begannen die Professoren aus ihrer Idee professionelle Seminare und Konferenzen zu entwickeln. Seitdem laden sie jedes Jahr Experten aus Soziologie, Philosophie und Psychologie ein, um sich in Vorträgen auszutauschen. Die rund 60 Teilnehmer der diesjährigen Konferenz sind auf verschiedene Hütten aufgeteilt, die die Organisatoren nebeneinander aufgekauft haben oder von den Dorfbewohnern zur Verfügung gestellt bekamen. Dabei ist jedes Haus wie ein eigenes kleines Museum: Teilweise sind noch Bilder und Dokumente aus den 1920er Jahren im Original belassen.
Am zweiten Tag der Veranstaltung hört Jurij von einem begeisterten Studenten, dass er die halbe Nacht draußen geblieben sei. Schwarzer Himmel, deutlich abgezeichnete Sterne und absolute Stille - das kannte er bisher nicht und erlebte es das erste Mal auf dem Dorf.
Jurijs Erfahrung nach bleibt dieser Kurs den Studenten am Ende des Studiums immer am stärksten in Erinnerung, da er etwas sehr Ungewöhnliches sei. „Sie kommen gemeinsam her, schlafen zusammen in einem Raum, entdecken das Dorfleben und tauschen sich gegenseitig darüber aus. Sie bekommen hier Eindrücke, die es im Hörsaal nicht gibt", erklärt Jurij. „Zwei Drittel der Studenten haben davor nie ein Dorf gesehen, aber durch die Veranstaltung wird ihr Interesse geweckt und sie fangen an, selber durch Russland zu reisen."
Von Aussteigern und Sehnsüchtigen
Die Studenten interessieren sich vor allem für die grundsätzlichen Lebensweisen mit all den alltäglichen Problemen, traditionellen Strukturen und Zukunftsperspektiven. Abends gibt es runde Tische, bei denen Dorfbewohner von ihren Erfahrungen erzählen. Mit Minibussen fahren Studentengruppen auf Exkursion, um die Dorfhütten zu besichtigen.
Wie die Professoren Jurij und Nikita ziehen viele zuerst für einen Teil des Jahres aufs Land und nutzen ein Häuschen als Sommerresidenz und Erholungspunkt. Der Kreis Ugory hat insgesamt 6500 Bewohner, 150 sind in den letzten Jahren aus der großen Stadt gekommen.
Jurij hatte eher zufällig einen Besitz im Kreis Ugory gekauft, rund 1000 Dollar hatte ihn damals eine Holzhütte mit weitläufigem Gelände gekostet. „Wir haben immer unsere Freizeit hier verbracht. Als das dritte Kind kam, hat meine Frau entschieden, dass sie nicht mehr nach Moskau zurückkehren will. Dass es besser sei, wenn wir in einer ruhigen Gegend wohnen mit sauberem Wasser, sauberer Luft und sauberem Schnee. Das ist eben auch gesünder für unsere Kinder."
Seine Freunde aus Moskau und anderen Großstädten reagierten sehr unterschiedlich. Jurij hat schon in verschiedenen Orten Russlands gelebt. Laut eigener Aussage habe er 500 von 1000 wesentlichen Gegenden Russlands schon besucht, denn aus Neugier versuche er, das ganze Land kennenzulernen. „Wenn mich Bekannte fragen, wo es am besten ist, um sich anzusiedeln, ob Baikal oder Krasnodar, antworte ich immer: Schaut euch in Ugory um, das ist hier der lebenswerteste Fleck Russlands!" Mit einer ausschweifenden Geste zeigt er um sich herum und führt seine Begeisterung weiter aus: „Auf den ersten Blick sehen die Bewohner arm aus, sie haben keine feste Arbeit und ernähren sich selbst. Aber wie können sie sich Pelze und Gold leisten? Die Frage gebe ich auch oft meinen Studenten mit - dabei ist die Antwort sehr einfach und liegt auf den Feldern."
Jurijs Nachbarin Ljudmilla denkt ähnlich. Die ehemalige Moskauerin hat mit dem Umzug ins Dorf zu sich selber
gefunden. Sie lädt die Studenten zu Exkursionen in ihr Haus ein und zeigt stolz ihre selbstgemachten Handarbeiten und Kunstwerke. Die ehemalige Alpinistin arbeitete über mehrere Jahrzehnte als Informatikerin in Moskau und verbrachte drei Stunden täglich in öffentlichen Verkehrsmitteln. Als sie vor acht Jahren in Pension ging, entschied sie sich, aufs Dorf zu ziehen. „Moskau ist was für junge Menschen, die an ihrer Karriere arbeiten wollen, nicht für Menschen im höheren Alter." Am Anfang lebte sie mit ihrer Mutter in einem kleinen Holzhaus, seitdem sie voriges Jahr starb, ist Ljudmilla alleine. Aber das sei nicht schlimm, denn sie habe viel Besuch - nur im Winter traue sich niemand her, dann sei es schon etwas verlassen. „Hier auf dem Dorf hat man einen ganz anderen Abstand zu Menschen, um sich wohl zu fühlen. In Moskau hast du nur 60 Zentimeter, in der Metro meistens noch weniger. Auf dem Dorf hast du 15 Meter für dich - du rufst deinem Nachbar vom Weitem einen Gruß zu und du kannst immer laut Musik hören und das stört niemanden."
Sie lebt mit drei Hunden und vier Katzen zusammen und hat ihre Erfüllung in der Handarbeit gefunden. Im Wohnzimmer sitzen, hängen und stehen überall bunt zusammengenähte Puppen und Stofftiere, die Ljudmilla als kleinen Nebenverdienst auf Märkten und im Internet verkauft. Zugezogene und Datschensiedler lieben den alten Charme der Holzhütten, verbringen viel Zeit mit der Reparatur und dem Erhalt des Hauses. Mit dem Leben im Dorf könne man sich stärker identifizieren, da man ständig direkten Kontakt mit der Natur habe, wie zum beim Beispiel Beeren sammeln und Milch melken, erklärt die Soziologin Makuschewa aus St. Peterburg.
Ljudmilla fühlt sich als Bindeglied zwischen Moskauern und Dorfbewohnern. Moskauer seien sehr arrogant und hätten eine schlechte Einstellung gegenüber den Dörflern. „Großstädter glauben natürlich, dass die Leute auf dem Land weniger Kultur hätten - in gewisser Weise ist es auch so, weil es kaum Möglichkeiten gibt, sich weiterzubilden", erklärt Ljudmilla. „Am Ende ähnele ich den Dörflern nicht, wir hören nicht die gleich Musik, lesen nicht die gleiche Literatur. Es fehlt oft die Grundlage für tiefere Gespräche."
Retten die Großstädter das Dorf oder rettet das Dorf am Ende den Großstädter? Diese Frage wirft ein Einführungsfilm zu Beginn der Veranstaltung auf und bleibt am Ende unbeantwortet. „Es ist hier wie in jedem anderen Dorf Russlands", sagt Jurij. „Leute ziehen weg, übrig bleiben Babuschkas, Minderjährige, Alkoholiker. Also die, die nicht wegkönnen, oder für die ein Leben anderswo keinen Sinn macht. Und doch ist es in jedem Dorf mehr oder weniger anders."
Zwei Studenten aus St. Petersburg erzählen, dass sie sich vorstellen könnten, nach der Universität aufs Land zu ziehen. Ihnen sei aber wichtig, dass die Verkehrsanbindungen stimmen, ebenso wie der Zustand der Sanitäranlagen und dass es eine gute Internetverbindung gebe. Und eben hier sieht Jurij den Schlüssel für die Zukunft des Dorfes: Immer mehr Großstädter werden in Zukunft zurückziehen und mit guter Internetverbindung die Arbeiten von zu Hause aus erledigen können.
Auch die soziale Komponente des Dorflebens sei wichtig, sagt Jurij:„Es gibt keine Konkurrenz wegen der Landfläche. Natürlich entstehen Situationen, in denen Leute sich miteinander streiten und beschimpfen, aber wenn es darauf ankommt, dann halten sie zusammen. Hier herrscht eine viel stärkere Solidarität als in der Stadt." Der Soziologieprofessor vertritt die Theorie, dass in 20 Jahren die Dörfer wieder voll sein werden. Andere sehen die blühende Zukunft des Dorfes jedoch nicht so klar wie Jurij. „Nicht jeder will irgendwann raus ziehen", führt Ljudmilla aus. „Das ist mein spezieller Charakter, dass ich herkommen wollte. Für introvertierte Leute ist das Landleben wahrscheinlich besser. Wenn ich älter und schwächer bin, werde ich zu meinem Sohn nach Almaty ziehen. Das Dorfleben geht nur in einer bestimmten Phase deines Lebens."