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"Und dann kam der 11. September"

Thomas Hermanns

Thomas Hermanns spricht im Interview über die 90er Jahre, das Jahrzehnt des gefühlten Aufschwungs und der Boybands - und wie jäh es endete.

Herr Hermanns, in Ihrer Musical-Revue „Boybands Forever" feiern Sie die Boybands als Phänomen der Neunziger Jahre. Was ist an den Kunstprodukten der Neunzigerjahre so anders als an den heutigen gecasteten Stars? Ich glaube, dass der gesamte Neunziger-Pop von einem Faktor geprägt wurde - nämlich von Unschuld, die dann mit den Anschlägen vom 11. September verloren ging. Es gab Boybands, Britney Spears, den Mickey-Maus-Club, das Barbie Girl und Doctor Alban, es gab die Loveparade, und die ganze Welt, nicht nur die Techno-Welt, war ja von einem unglaublichen Optimismus geprägt. Der Kalte Krieg war vorbei, die Mauer war gefallen. Dieses Pop-Gefühl der Neunziger war sehr positiv, sehr optimistisch und auch ein bisschen naiv. Das ist heute weg.

Einfach weg - oder eben anders? Angesichts des Weltgeschehens nach dem Jahr 2001 kann man sich diesen bunten Bubble-Gum-Pop, diese Naivität gar nicht mehr vorstellen. Ich glaube, wir hören heute gerne noch Lieder wie „Back for good", weil wir gerne an diese Zeit zurückdenken, in der Pop noch Optimismus und Hoffnung ausstrahlte. Das ist heute nicht mehr so. Popmusik ist insgesamt düsterer und skeptischer geworden, egal auf welchem Level. Selbst One Direction - obwohl sie sich immer noch in ihren Videos am Strand mit Wasser überschüttet haben - sagen inzwischen: Wir sind keine Boyband, wir machen ernsthaft Musik. Daran wird deutlich: Man macht zwar dasselbe wie vorher, aber man trübt das noch ein bisschen ein, damit es nicht unter Naivitätsverdacht steht oder allzu optimistisch rüberkommt.

Was ist so schlecht am Optimismus? Optimismus wirkt heute schnell verdächtig oder gar dumm. Es heißt dann immer: Wie kann man optimistisch sein in so schweren Zeiten? Und das war in den Neunzigern sicher gerade das Gegenteil. Man dachte, alles geht nach vorne. Das Internet rettet die Welt. Wer kein Start-up macht, ist doof. Alles ist pink. Jetzt färbe ich mir noch grüne Haare, gehe zur Loveparade. Und dann kam der 11. September.

War das Konzipieren eines Boyband-Musicals für Sie persönlich auch so etwas wie eine Reise in die guten alten Zeiten? Das auch. Aber als ich dann versucht habe herauszufinden, warum war diese Boyband erfolgreicher als jene, wurde mir bewusst, dass die Boybands eigentlich das für die Neunziger waren, was die Girlbands für Motown in den 60er Jahren waren. Der nächste Schritt war dann, mich zu fragen, was macht Amerika, was macht Europa, und was macht die Unterschiede aus? Das habe ich mir dann bis in die Gegenwart hinein genauer betrachtet, bis zu den koreanischen Boybands, bei deren Auftritten dann 13 Herrschaften auf der Bühne rumspringen. Es geht für mich immer um die Frage: Was ist populär, wie wird es gemacht, wer hat Erfolg und wer nicht? Und vor allem: Warum ist es so schön?

Und? Warum ist Boyband-Musik so schön? Also, musikalisch haben mich vor allem die Balladen gekriegt. Die hatte ich zuerst ein bisschen unterschätzt. Ich dachte: Ja, sowas wie „Back for good" oder wie „Babe", alles schön. Aber nachdem ich diese Songs oft gehört habe, habe ich gemerkt, wenn man den Sound ein bisschen anders definiert, also weniger diese Neunziger-Arrangements macht, sondern mehr Klavier und Gitarre einsetzt, dass die Lieder als Popsongs unglaublich gut funktionieren. Daher meine Theorie, dass das eigentlich die besten Popsongs seit Motown sind, und zwar für den weltweiten Konsumentenkreis.

Man hört die Boyband-Hits ja auch häufig in Karaokebars. Eben! Nach zehn Minuten stehen immer drei Jungs auf der Bühne und singen „Everybody" oder „Backstreet's Back". Anders als Doctor Alban oder „Barbie Girl" verschwanden diese Lieder nicht einfach, sie gingen in einen anderen Kosmos über, wurden neu interpretiert - nicht nur für Karaoke, auch von sogenannten kredibilen Popgruppen. Und am Ende merkt man: Okay, da steckt wirklich gutes Songwriting drin, und das hat mich dann nochmal besonders gekickt.

Es scheint, als würden Boybands unterschätzt? Viele denken ja, es ist ganz einfach, einen Popsong zu schreiben. Aber das ist extrem schwer. Nicht alle Boyband-Hits sind gute Songs, aber die, die Bestand haben, sind extrem gut gelungen. Wir haben ein Lied in der Show, das bringt es wirklich auf den Punkt. „Breathe easy", ein späteres Lied der Gruppe Blue. Das ist einfach der völlige Irrsinn, das kann sich mit jedem Queen-Song oder mit jeder großen Power-Ballade der 70er Jahre messen.

Oft sind die Lieder ja für die Tanzfläche gemacht und wirken eher gefällig, oder nicht? Sicher, aber das ist auch sehr komplex, denn der Beat muss gut sein und die Melodie trotzdem so eingängig wie bei „Bye Bye" oder ähnlichen Titeln. Aber das Entscheidende und irgendwie auch Tragische ist, dass man angesichts der schönen jungen Männer in ihren falschen Pelzmänteln und diesen Latex-Kostümchen und all den schrecklichen Sachen, die die anhatten, weder die Qualität der Songs, noch die Qualität der Choreografie gesehen hat.

Können Boybands heute noch nach diesem 90er-Jahre-Erfolgsrezept funktionieren? Immerhin schaut das Publikum ja heute schon zu, wie Talente zu Stars gemacht werden. Diese ganzen vermeintlich persönlichen Geschichten erzählt man heute gar nicht mehr. Ja, das klappt heute noch. Zuerst dachten wir ‚Gott, die Neunziger sind jetzt auch lange her.' Aber dann kam One Direction mit demselben Rezept - wieder ein Schwiegersohn, wieder ein Bad Boy, wieder ist einer dabei, an den man sich nicht erinnert. Es hat wieder geklappt, wieder am Strand im Meer sich mit Wasser überschütten und wieder einem Mädchen nachgucken. Auch wenn sich die Welt verändert hat: Das ist kein reines 90er-Phänomen. Es wird auch noch in 50 Jahren diese Gruppen geben.

Interview: Lara Schulschenk
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