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Die Entfremdung der Fankurve

Gewalt ist immer Chaos - oder nicht? Die gesellschaftliche Debatte über Ultras und Gewalt in der Fußballfankultur scheint nicht abzuebben. Zuletzt veröffentlichte der Autor Christoph Ruf am 26. Oktober 2022 in der linken Zeitung ND - Der Tag einen Beitrag, in dem er verschiedene Vorkommnisse der letzten Monate unter die Lupe nimmt und feststellt: Junge Menschen orientieren sich mancherorts eher an Hooliganismus und Hooliganstrukturen als an den vermeintlich mächtigen Motoren der Kurve, den Ultras. "Choreographien und das Gruppenerlebnis als solches (scheinen) vielen zu langweilig geworden zu sein. Statt dessen könnten Gruppentreffen mancherorten mittlerweile auch gleich im Anschluss ans Krafttraining stattfinden, weil sich ganze Szenen ›aufpumpen‹, um bei der nächsten Auseinandersetzung mit einer rivalisierenden Szene gut auszusehen." Reicht uns das als Antwort? Zunehmende Gewaltbereitschaft nur aufgrund von Langeweile in Ultrastrukturen?

Ruf macht das, was etliche Zeitungs- und Nachrichtendienstredaktionen seit Jahren tun: alle Vorfälle damit abheften, dass es nur mehr der nächste Vorfall unter Hunderten der letzten Jahre gewesen sei und die Schuld sofort und ohne kritische Einordnung den Ultra- und Hooligangruppierungen zuschieben. Doch das verschleiert, statt zu erklären. Wir sollten unseren Fußball zu gut kennen, um mit dem Finger auf vermeintliche "Idioten und Trottel" zu zeigen, die ja alle angeblich "keine wahren Fans" seien. Wir sollten den Fußball und seine linken Potentiale zu gut kennen, um im Zuge von Gewaltvorfällen von "gelangweilten Jugendlichen" oder "Coolness" zu sprechen. Einer der jüngsten Vorfälle ereignete sich in Nizza rund um das Europa-League-Spiel des dortigen OGC und des 1. FC Köln am 8. September, als es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen auf den Rängen kam. Nutzen wir dieses Beispiel und arbeiten auf: Warum fühlt es sich so an, als wären wir in einer Gewaltspirale gefangen? Und warum bieten sich besonders die Ultras für Normalofans so wunderbar als Prügelknaben an?

"Mehr stonn zo Dir, FC Kölle"

Die Kräfteverhältnisse im Fußballstadion haben sich in den vergangenen Jahrzehnten enorm gewandelt. Ultras haben keine naturgegebene Autorität, genausowenig wie Hooligans oder Kuttenträger. Wer im Stadion den Ton angibt, kann man nicht deterministisch bestimmen. Viele Ultragruppierungen sahen sich zuletzt häufiger mit Fragen nach ihrer Legitimität konfrontiert. Auch nach dem Auswärtsspiel des 1. FC Köln in Nizza wurden etliche, zumeist hilflose und schlecht begründete Forderungen erhoben, Ultras im Extremfall nie wieder in ein Stadion zu lassen. Das mag zunächst absurd und lächerlich wirken, doch ist die Forderung naheliegend, wenn man sich vergegenwärtigt, wie platt oft "Gewaltabstinenz" und zu ihrer Durchsetzung Kollektivstrafen angemahnt werden.

Vielen Ultras wurde in den vergangenen Jahren ein Widerspruch zunehmend bewusst: Einerseits sehen sie sich als Avantgarde des Stadions und nehmen für sich in Anspruch, Stimmung zu erzeugen und zu lenken. Andererseits funktioniert das nur solange, wie das eigene Stadion, die eigenen Fans diesen Anspruch akzeptieren und sich unterordnen. Entzieht ihnen das Stadion die Legitimität, können wenige hundert Personen - und seien sie noch so laut - eben wenig anrichten. Die Konsequenz dieses Widerspruchs ist allerdings nicht überall sichtbar.

Die Vernetzung zwischen Ultrastrukturen, Hooligangruppen, Fanklubs und unorganisierten Fans ist ein elementarer Bestandteil der Sichtbarmachung und Wertschätzung von Ultrastrukturen, ihrer Autonomie und ihres subversiven Charakters. Fußballfans wissen die Arbeit der Ultragruppierungen zu schätzen - was sie machen, planen, basteln und anzünden. Die Atmosphäre in den Bundesligastadien während der Rückrunde 2021/22 nach der Rückkehr vieler Ultras zeigte das: Pyrotechnik in fast jedem Stadion, riesige Choreographien und Normalo­fans, die nicht pfiffen oder ablehnend reagierten, sondern die Handys zückten, um ein Erinnerungsfoto aufzunehmen.

Das Spiel in Nizza zeigte, dass diese Bündnisse brüchig sind. Doch auch die Ausschreitungen auf den Tribünen haben ihre Vorgeschichte, um so erstaunlicher ist die konfrontative Haltung vieler Normalofans gegenüber den eigenen Ultras und Hooligans. Die Gewaltspirale im Fußball ist erschreckend, aber sie ist keineswegs singulär oder Zeugnis einer moralisch grundsätzlich verdorbenen Subkultur. Sie ist das vorläufige Ergebnis einer Entfremdung, die in Frankreich ihren Auslöser bereits direkt nach Beendigung der "Geisterspiele" fand.

Beispiel Frankreich

Der griechisch-französische Staatstheoretiker und Marxist Nicos Poulantzas schrieb vor mehr als 40 Jahren vom bürgerlichen Staat als einer "materiellen Verdichtung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse". Diese Feststellung beschreibt auch die Sphäre des Fußballstadions, wie Klaus-Dieter Stork und Jonas Wollenhaupt in ihrem jüngst erschienenen Buch "Links kickt besser" bekräftigen: "Auch das Stadion presst links und rechts, oben und unten an einem Ort zusammen. So nah wie hier kommen sich VIP-Lounge-Besucher:innen und Ultras, linke und rechte Fans sonst nie." Das Fußballstadion als Kleinstkosmos einer bürgerlichen Gesellschaft, der ihre Kräfte- und Machtverhältnisse abbildet. Die gesellschaftlichen Kämpfe finden auch im Fußball statt, nirgends sonst kann man viele der Probleme kapitalistischer Gesellschaften so praktisch aufzeigen.

Aber was hat das nun mit den Auseinandersetzungen zu tun? In Frankreich prägt Gewalt im Fußballstadion bis heute die Fankultur. Die Ligue 1 hat seit Beendigung der Geisterspiele im Spätsommer 2020 vielfach mit Ausschreitungen zu kämpfen, sogar der französische Präsident Emmanuel Macron schaltete sich ein und deutete an, notfalls Spiele unter Fanausschluss austragen zu lassen. Deutsche Leitmedien übernahmen die Sichtweise von der völlig enthemmten Gewalt und auch von ihrem vermeintlich natürlichen Charakter, indem sie ihre Berichte mit Titeln wie "In Frankreichs Stadien explodiert die Gewalt" ( welt.de, 23.9.2021) überschrieben. Die Suggestion ist eindeutig: Fußballfans müssen kontrolliert werden, weil sie sonst ihrem scheinbar natürlichen Trieb zur Gewalt nachgeben. Wie falsch diese Annahme ist, zeigte sich ebenfalls in Frankreich. Bei Fußballspielen verfolgt der französische Staat seit vielen Jahren eine Nulltoleranzpolitik. Ultras, Fans und Hooligans sind heftigen Repressionen ausgesetzt. Dieses Gefühl von Ohnmacht, die Kriminalisierung, ohne kriminell zu sein, und der Eindruck, ungerecht behandelt zu werden, führen eben nicht zu sichereren Stadien, sondern zu einer zunehmenden Radikalisierung. Das Phänomen können wir auch in Deutschland beobachten, die Fälle von Polizeigewalt im Fußballumfeld nehmen zu oder werden zumindest dank "sozialer Medien" öffentlich besser sichtbar.

Die Gewaltspirale in Frankreich, aber auch in anderen Ländern ist nicht bloß das soziale Resultat von Männerbünden, die in der Ausübung von direkter, körperlicher Gewalt ihre "hegemoniale Männlichkeit" (Raewyn Connell) reproduzieren und festigen. Noch weniger ist die zunehmende Gewalt damit zu erklären, dass junge Menschen Lust haben, sich zu schlagen, weil es so attraktiv und Choreos aufführen zu langweilig ist. Die Gewaltspirale ist das Ergebnis einer Entfremdung, die Fußballfans ohnmächtig zurücklässt und ihnen sogar die Illusion raubt, elementarer Teil dieses Spiels zu sein. Entfremdung und Enteignung, Wertabschöpfung und kulturelle Ausbeutung sind zentrale Phänomene dieses marktkonformen und kapitalistischen Fußballs, der sich seiner Geschichte und gesellschaftlichen Verwurzelung entledigt, wie ein UFO abhebt. Die Coronapandemie und ihre Folgen für den marktkonformen Fußball, nämlich Fanausschlüsse und die Devise "The show must go on", um Fernseh- und Sponsorenverträge zu sichern, haben Wunden bei den Fans hinterlassen. Noch nie war in westeuropäischen Ländern die Kritik am Konstrukt Profifußball so groß wie jetzt, noch nie waren so viele verschiedene Fans in ihrem Ohnmachtsgefühl so vereint. Dass sich viele nicht mit ihrer Machtlosigkeit, ihrer Niederlage abfinden, sollte nicht verwundern. Fußballfans sind Fußballfans, weil (ein linker) Fußball stets das Versprechen gab, dass der David gegen den Goliath gewinnen könnte. Und weil insbesondere Ultragruppierungen nicht nur um ihre größte Leidenschaft fürchten, sondern auch staatliche Repression erfahren, haben sie nicht mehr viel zu verlieren. Hieraus rührt das Gefühl der Hilflosigkeit. Es führt zu "Radikalisierung", zu einer Neuorientierung, zum Austesten von Grenzen. Denn so stark der Wille zum Erhalt der eigenen Kultur, des eigenen Sports und der eigenen Räume auch ist, so sehr sind diese Anhänger auf sich allein gestellt im Kampf gegen die Staatsmacht und bei dem Versuch, die unterschiedlichsten Fußballfans von ihrer Sache zu überzeugen.

Autoritärer Charakter im Stadion

Dieses Dilemma zeigte sich, als die Köln-Ultras und Hooligans in den Auswärtsblock in Nizza zurückkehrten: Andere Köln-Fans beschimpften sie, stellten ihnen Beine und versuchten sogar, ihnen die Masken und Sturmhauben abzuziehen. Ein Konflikt mit Spaltungspotential. Hier zeigte sich die Richtigkeit von Poulantzas' Analyse: Die Kräfteverhältnisse im Stadion sind keineswegs so, dass der Fußball in seiner demokratischen und linken Form erhalten wird. Hier blitzte der "autoritäre Charakters" vieler Normalos auf, die nur denen zu Hilfe kommen, die den Fußball zur Profitakkumulation und Wertabschöpfung nutzen. Statt Solidarisierung und Kampf um die gemeinsame Sache: Vorurteile, der Wunsch nach Konformität und vorauseilender Gehorsam gegenüber staatlichen Autoritäten. Das führt zur Spaltung der Fangemeinde. So sorgt das Gefühl der Entfremdung und Enteignung zunächst dafür, dass viele aktive Fans und Ultra-Gruppierungen gewalttätig werden, um das Verlorene zu kompensieren, was wiederum zur Entsolidarisierung der kritischen Massen mit den Ultras führt.

Ultras und anderweitig organisierte Fans zeigen uns eine Nische im Fußball. Die Nische einer besseren, demokratischeren Zukunft, selbst noch in ihrer Gewalttätigkeit. Denn diese ist klassischerweise in (Acker-)Kämpfen territorial abgegrenzt und autonom organisiert, mit klaren Regeln und Absprachen. Wird sich daran nicht gehalten, wird nicht gekämpft und öffentlich darauf aufmerksam gemacht. Dass das nach hinten losgehen kann, dürfte überdeutlich geworden sein. Das die neue Gewaltspirale aber zur Grundlage für vermehrte und verstärkte Repressionen gegenüber Ultras geworden ist, muss lautstark kritisiert werden. Die Sub- und Jugendkultur fordert unsere bürgerliche Gesellschaft und ihre Organisationen heraus. Nicht mit linken politischen Forderungen, aber in ihrer Praxis. Denn sie existiert losgelöst von staatlichen Strukturen: Man organisiert sich in autonomen Räumen, bietet untereinander Hilfe und Solidarität und weist damit über eine bürgerliche Gesellschaft hinaus, die nichts als Ordnung und Ruhe gelten lässt. Ohne Ultras verliert der Fußball sein subversives und utopisches Potential.

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