In keinem europäischen Land schließen sich so viele Menschen dem IS an wie in Bosnien. Rekrutiert werden sie in abgelegenen Salafisten-Dörfern. Aktive Terrorzellen - mitten in Europa? Ein Ortsbesuch.
„Salam alaikum", „Friede sei mit euch", sagt Bahira Hadzic und bindet eilig ihr Kopftuch enger. Kein Mann soll einen Blick auf ihre schwarzen, schulterlangen Haare erhaschen. Sie steht vor ihrem Haus in Osve, einem abgelegenen Dorf in den bosnischen Bergen. In ihrem Garten gackern unter Pflaumenbäumen hundert Hühner, in der Hand hält sie eine Klatsche. „Diese verdammten Fliegen", sagt sie und lacht.
Über Osve wird viel geredet in Bosnien, und zwar nicht der Idylle wegen. Ein Dutzend Häuser, vor denen Kinderwagen stehen, alte Obstbäume, eine Moschee. Direkt daneben eine schwarze Fahne, in Weiß steht darauf geschrieben: „Es gibt keinen Gott außer Gott, und Mohammed ist sein Prophet", darunter ist ein Schwert gemalt. Es ist das Banner der bosnischen Mudschahedin.
Die Gotteskämpfer strömten ab 1992 ins Land, sie kamen zu Tausenden, um ihre bosnischen Glaubensbrüder militärisch zu unterstützen, darunter viele Afghanistan-Veteranen. Damals gab es noch kein YouTube, trotzdem kursierten Videos, auf denen die Kämpfer in Bosnien stolz mit den abgeschnittenen Köpfen serbischer Gegner Fußball spielten. Es gibt Soldaten dieser Einheiten, die bis heute nicht aufgehört haben, an den Kampf zu glauben. Sie fechten ihn nur mehr als zweitausend Kilometer entfernt aus - in Syrien und im Irak. Das haben Geheimdienste immer wieder zeigen können.
Einige dieser Kämpfer kommen aus Osve. Die Ortschaft ist eines von vier Dörfern, in denen Kämpfer für den Islamischen Staat (IS) und die Al-Nusra-Front rekrutiert werden - die bosnische Geheimpolizei ist sich da sicher. Aus keinem europäischen Land schließen sich, gemessen an der Bevölkerungszahl, so viele Kämpfer dschihadistischen Gruppen an wie aus Bosnien. Auch die deutschen Behörden sind alarmiert, auch auf dem G-7-Gipfel im Juni in München war das ein Thema. Die IS-Kämpfer vom Balkan, so fürchtet man, könnten für Europa eine große Gefahr werden.
Bahira will davon nichts wissen. „Nein, also mit Gewalt haben wir hier wirklich nichts zu tun", sagt sie, während sie in ihrer Küche Mokka kocht. Auf einem kleinen Tisch steht ein Laptop. Auf dem schaut sie YouTube-Videos und lernt so Arabisch. Ihr Lehrer hat einen sehr langen Bart, und meistens geht es um den Koran, die Rolle der Frauen und darum, wie ein gutes Leben aussieht. Ansonsten sei es hier ja sehr einsam, sagt sie. „Wir sind hierher aufs Land gekommen, weil es billig ist."
Vorher, da wohnten sie in verschiedenen Städten in Bosnien. Teuer war das Leben da, das Essen schlecht, und erst die Nachbarn: Plattenbau, alles so eng. In Osve ist alles anders. Hier können sie Hühner halten und Kühe. Aus deren Milch macht sie zwei Sorten Käse, den sie bei den Nachbarn gegen Getreide tauscht. Die Luft, die Wiesen, dahinter der Wald und nebenan gleich ein Platz zum Beten. Hier leben die Hadzics unter Gleichgesinnten. Osve ist eine Kommune, man baut hier aufeinander. Man hilft sich.
Bahira Hadzics Mann trägt auch einen sehr langen Bart, seine Hosen reichen nur bis zu den Knöcheln. Heute ist er unterwegs, die Autoversicherung, viel Papierkram, so was dauert hier den ganzen Tag. Erst zum Abendgebet wird er wieder im Dorf sein. Früher, da war Izet Hadzic Schlosser von Beruf und Gitarrist aus Leidenschaft. Heute ist er Salafist. Und so etwas wie der Anführer der radikalen Gemeinde. Seine Familie war die erste, die hier ein Haus renovierte, das war 2011.
Eine Mischung aus Hormonen und FreizeitEs gibt zwei Arten von Männern aus Bosnien, die sich dschihadistischen Gruppen in Syrien anschließen. Die einen sind Jugendliche. „Bei denen mischen sich Hormone und viel freie Zeit", sagen Vlado Azinovic, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Sarajevo, und Muhamed Jusic, ein islamischer Theologe und Publizist. Gemeinsam haben sie untersucht, warum Bosnier nach Syrien und in den Irak reisen, um dort bereitwillig im Kampf für ihren Gott zu sterben. Bei einer Jugendarbeitslosigkeit von knapp über 60 Prozent ist das sehr viel freie Zeit. Die andere Gruppe der Kämpfer ist längst ihrer Jugend entwachsen. Sie sind keine Novizen, sondern haben bereits Erfahrung im Krieg.
Ihre Studie nennt namentlich 217 Personen, die zwischen Ende 2012 und Ende 2014 nach Syrien und in den Irak ausgereist sind - die Dunkelziffer dürfte deutlich höher liegen. Das klingt auf den ersten Blick nicht nach viel. Doch das Verhältnis zur Gesamtbevölkerung ist besorgniserregend: In Bosnien leben insgesamt nur 3,8 Millionen Menschen. Wenn man die bosnischen Staatsbürger im Ausland mitrechnet, haben 41 von einer Million Staatsbürgern beim Islamischen Staat und bei al-Nusra gekämpft oder tun es noch.
„Mit den Wilden vom Islamischen Staat hat mein Mann nichts zu tun", sagt Bahira entrüstet. „Nur, weil sich ein paar Muslime danebenbenehmen, heißt das doch nicht, dass wir alle so sind. Schon gar nicht in Osve." Allen Beteuerungen zum Trotz, die Realität sieht doch etwas anders aus. Nur wenige Schritte vom Haus der Hadzics wohnt Hamdo Fojnica. Sein Sohn Emrah ist ein bekannter Islamist in Bosnien. Emrah stand in Sarajevo vor Gericht, er wurde verdächtigt, 2011 einen Terroranschlag auf die US-Botschaft in Sarajevo mitorganisiert zu haben.
Die bosnischen Behörden konnten seine Mittäterschaft jedoch nicht beweisen, kurz nach seinem Freispruch reiste er über die Türkei in den Irak, wo er sich dem IS anschloss. Auf einem belebten Markt in Bagdad sprengte er sich im August 2014 im Namen Allahs in die Luft und nahm 24 Menschen mit in den Tod. Sein Vater erklärte öffentlich, er sei stolz auf seinen Sohn. Emrah Fojnica ist nicht der einzige berühmte Salafist mit Verbindungen nach Osve. Hier lebte auch Adem Karamuja. Ihm und elf anderen wird derzeit der Prozess gemacht, weil sie terroristische Gruppen gegründet haben sollen - mit dem Ziel, Personen in das Kriegsgebiet im Irak und in Syrien zu bringen.
Osve ist kein Einzelfall. Die bosnischen Behörden beobachten noch drei weitere salafistische Gemeinschaften. Da ist Gornja Maoca im Nordosten Bosniens, wo bis zum vergangenen Februar Gemeindemitglieder Flaggen des Islamischen Staates hissten und das Logo der Terrorgruppe an einen Schuppen sprühten. Um sich Behörden und Journalisten vom Hals zu halten, haben die Bewohner die Flaggen inzwischen entfernt. Aus Gornja Maoca stammt Nusret Imamovic, den die USA weit oben auf ihrer Terrorliste führen. Heute kämpft er bei den Al-Nusra-Brigaden in Syrien. Die bosnische Polizei geht davon aus, dass er zuvor Kämpfer für den Krieg rekrutiert hat.
Verlassene Häuser auf dem LandDa ist Dubnica, östlich von Tuzla. Regelmäßig zu Besuch war dort Nerdin Ibric. Er stürmte im April des vergangenen Jahres die Polizeistation der Stadt Zvornik, erschoss einen Polizisten und verletzte zwei weitere schwer. Und da ist Bosanska Bojna, wo der bekannte Prediger und IS-Sympathisant Bilal Bosnic Häuser von Serben aufkauft. Hier soll wohl der nächste Rückzugsort für radikale Salafisten entstehen. Derzeit sitzt Bosnic eine mehrjährige Haftstrafe ab. Alle diese Dörfer haben eines gemeinsam: Hier wohnten vor dem Krieg Serben, die nun nicht mehr zurückwollen. Ihre Häuser sind verlassen, die Grundstücke stehen billig zum Verkauf. Eine gute Investition für jeden, der die Abgeschiedenheit schätzt und ungestört sein will.
Auch in Osve ist das so. Einst lebten hier rund 140 serbische Familien. Der Krieg machte das Dorf zu einer Geisterstadt, die meisten Serben verließen den Ort und ließen sich im serbischen Landesteil, der Republika Srpska, nieder. In Osve und Umgebung leben heute vor allem Bosniaken. Als endlich Frieden herrschte, kehrten die wenigsten der orthodoxen Serben zurück.
Blagoje Vidovic ist einer von ihnen. Sein kleines Häuschen schmiegt sich als erstes im Dorf an den Hang. Über der Veranda rankt sich Wein und bildet einen Schutz gegen Sonne und Regen. Wenn Vidovic auf seiner Holzbank darunter sitzt, sind die reifen Trauben zum Greifen nah. Von hier hat der 75-Jährige das Tal und das ganze Dorf im Blick. Vidovic raucht eine Zigarette nach der anderen. „Das ist gute deutsche Qualität", sagt er und zeigt stolz auf seinen Aschenbecher. Den hat er aus München mitgebracht, wo er sein halbes Leben gearbeitet hat. Seit elf Jahren ist er Witwer, im Sommer kommen seine Kinder zu Besuch, „die Luft ist hier so gut, die genießen die Ruhe."
Neben Vidovics Haus steht das Gemeindezentrum von Osve. Eine Art Berghütte, in der die Bewohner von Osve und andere aus den angrenzenden Örtchen einmal in der Woche zusammen Sliwowitz trinken, den berühmten Obstbrand aus Pflaumen. „Aber die Bradonja, die machen da nicht mit. Die sind da sehr streng." Bradonja, die Bärtigen. Das ist sein Wort für die Salafisten. „Die trinken höchstens mal einen Kaffee."
Wenn er Hilfe bräuchte, könne er sich auf Nachbarn wie die Hadczics verlassen. Vidocic selbst hat kein Auto. Mindestens einmal im Monat fährt einer aus dem Dorf ihn deswegen in die nächste Stadt. Die Rente auszahlen lassen oder zum Arzt - was gerade so anliegt. „Die lassen mich leben, ich lasse sie leben", sagt Vidovic. „Was sie sonst machen, das weiß ich nicht. Und ich will es nicht wissen."