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Mit Chatbots Geschichte erzählen. Alexander von Humboldt bei RadioEins

Vergangene Ereignisse zeitversetzt und häppchenweise anhand von Originalobjekten und -dokumenten nacherzählen und dabei die Menschen von damals selbst zu Wort kommen lassen. Diese Idee greift die digitale Geschichtsvermittlung immer öfter auf, um die Vergangenheit lebendiger, nachvollziehbarer und auch etwas nachfühlbarer zu machen. Den Beginn machten in Deutschland die mehrfach ausgezeichneten Twitter-Projekte 9Nov38 um die Reichsprogromnacht und DigitalPast zu den letzten Monate des 2. Weltkriegs. Danach verlor das Format an Aufmerksamkeit, aber mit dem Aufkommen von Messenger-Marketing und Chatbots wird diese Form des Geschichte-Erzählens wieder häufiger. Nach dem prämierten Projekt des Bayrischen Rundfunks zu Kurt Eisner und dem " HammaBot "-Guide des Archäologischen Museums Hamburg rund um den Hamburger Bischofsturm hat nun RadioEins mit Alexander von Humboldt nachgezogen.


Über das Kurt Eisner-Projekt hatte ich bereits viel und vor allem Gutes gehört, aber es nicht selbst bei WhatsApp verfolgt (schreibt gern eure Erfahrung damit in die Kommentare). Das Projekt wurde mit Unterstützung von zahlreichen Münchner Wissenschaftsinstitutionen durchgeführt - dem Haus der Bayerischen Geschichte, der Münchner Stadtbibliothek, dem Münchner Stadtmuseum, den Staatlichen Archiven Bayerns, der Staatsbibliothek Bayern und dem Stadtarchiv München - und kann damit sicherlich als wissenschaftlich fundiert gelten. Die Kommunikation erfolgt über einen Chatbot, der sowohl Originaltexte als auch vom Redaktionsteam verfasste Texte an die Abonnenten verschickte und auch auf Fragen antwortete.


Unter dem Titel " Hier kommt Alex " versuchte sich RadioEins zwischen Mitte August und dem 14. September (Humboldts 250. Geburtstag) an einem ähnlichen Format und diesmal war ich von Anfang an dabei.


Die Geschichte

Die Idee war, Humboldts Reisen in Südamerika nachzuerzählen - allerdings nicht in Echtzeit, denn das hätte fünf Jahre gedauert inklusive langer Zeiten ohne neue Informationen aufgrund der Quellenlage. Stattdessen berichtete "Alex" in seinen täglichen Nachrichten jeweils von einer Station der Reise aus, von den Reisewegen (Schiff, Wanderung usw.), von seinen Beobachtungen in den besuchten Städten und natürlich von seinen naturkundlichen und mitunter sehr abenteuerlichen Forschungen.

Nachdem ich mich via Facebook Messenger bei RadioEins für "Hier kommt Alex" angemeldet hatte, stellte sich mir Humboldt erst einmal persönlich vor und gab mir eine kurze Einführung in das, was in den nächsten Wochen passieren würde.


Ab dem 14. August bekam ich dann wochentags täglich morgens zwischen 8 Uhr und 9 Uhr die erste Nachricht des Tages. Los ging es mit einigen Hintergrundinformationen zu Humboldt und seinem Reisebegleiter Aimè Bonpland, zu den Umständen des Reisens am Ende des 18. Jahrhunderts und zu Humboldts Forschungsinteressen.

Von Beginn an war das Projekt so konzipiert, dass verschiedene Gesprächsverläufe möglich waren. Nach jedem Informationshäppchen konnte ich wählen, zu welchem Aspekt ich gern mehr wissen würde oder ob ich für heute genug habe. Dabei waren die Autoren stets bemüht, nicht nur den naturwissenschaftlichen Kontext und Humboldts Abenteuergeist zu betrachten, etwa seine Entdeckung der nach ihm benannten Vogelarten. Auch seine weltanschaulichen Überlegungen und seine Gefühle spielten eine Rolle, soweit möglich. So wurde zum Beispiel seine Ablehnung des Sklavenhandels aufgegriffen und auch seine philosophische Wahrnehmung von der Rolle des Menschen auf der Erde. Diese hielt er für überschätzt und das Verhalten des Menschen gegenüber der Natur für selbstzerstörerisch.


Zudem erfuhr ich viel über die politischen und sozialen Rahmenbedingungen der Zeit und Humboldts Kontakte zu anderen Gelehrten wie Goethe und Darwin. Bereits während der ersten Stationen der Reise lernte ich etwas über Humboldts Messinstrumente und Methoden, später folgten seine Faszination für Vulkane sowie die Geographie, Biologie und Geschichte Südamerikas.


Neben dem reinen Text war das Gespräch gespickt mit Karten, heutigen Fotos bestimmter Orte, historischen Dokumenten und Tonaufnahmen von "Alex", in denen Auszüge aus seinen Briefen vorgelesen wurden.


Nach einem letzten Abstecher in die USA und einer Kritik an Sklavenhaltung und zerstörerischer Landwirtschaft dort, reiste Alex schließlich zurück nach Hause und verabschiedete sich nach vier Wochen von mir. Zum Abschluss berichtete er noch einiges aus seinem weiteren Leben, bevor ich am 14. September eine letzte Nachricht bekam, diesmal aber von der Redaktion. Sie bedankte sich für meine Treue und fragte nach Feedback. So sollte es sein.


Fazit

Als jemand, der nur wenig über Alexander von Humboldt wusste, habe ich viel gelernt. Zudem hatte ich das Gefühl, dass die "Gespräche" mit ihm auf tatsächlich überlieferten Informationen beruhen. Natürlich waren die Nachrichten nur bedingt authentisch, da Humboldt zwar zu Wort kommt, aber die Texte eben doch nicht selbst geschrieben hat. Dennoch wirkten sie nicht überinterpretiert oder -emotionalisiert, sondern als wären sie eng an Humboldts Briefen und Tagebucheinträgen orientiert. Somit habe ich einen guten Eindruck auch von dem Menschen Humboldt bekommen.


Neben der historischen Erzählung waren die Autoren stets bemüht, einen Zusammenhang zum Heute herzustellen und Humboldts Ansichten einzuordnen. So betonte er stets, dass seine Ansichten sehr ungewöhnlich für seine Zeit waren, etwa seine Anerkennung für die antiken Hochkulturen Süd- und Mittelamerikas, seine Ablehnung des Sklavenhandels oder sein Einsatz für einen schonenderen Umgang mit der Natur. Dass dies hervorgehoben wurde, finde ich wichtig und anerkennenswert, weil damit Humboldts Bedeutung für die Gegenwart verdeutlicht und aus historischer Perspektive ein kritischer Blick auf Kolonialismus, Industrialisierung usw. geworfen wird.


Insgesamt war ich recht angetan von meinem Chat mit Alexander von Humboldt. Ein Aber gibt es dennoch: Zwar muss das Gespräch vorkuratiert werden und kann nicht gänzlich frei sein. Trotzdem fand ich die Auswahl an Antwortmöglichkeiten oft befremdlich und unnatürlich - zumal klar war, dass meine Wahl den weiteren Informationsfluss bestimmen würde. Eine Auswahl zwischen "Respekt!" und "Verrückt!" ist wenig aussagekräftig und lässt mich nicht abschätzen, in welche Gesprächsrichtung beide Möglichkeiten mich bringen. Zudem fand ich mitunter alle Antworten unpassend für mich persönlich als "Gesprächspartnerin". Auch hatte ich mehrmals das Problem, das mich zwei scheinbar unterschiedliche Antworten im Laufe des Gesprächs an denselben Punkt zurückbrachten, sodass ich eine ganze Reihe an Informationen, die ich bereits bekommen hatte, erneut durchscrollen musste. Natürlich kann ein Chatbot kein reales Gespräch abbilden, sondern verfolgt das Ziel, den Gesprächspartner zu den Informationen zu führen, die vorgesehen sind. Cliffhanger ("Ich habe mich aufgeregt." - Antwortmöglichkeit "Worüber hast du dich denn aufgeregt?") finde ich aber dennoch irritierend, weil ich als Nutzerin weiß, was ich antworten soll, aber eigentlich etwas anderes antworten wollen würde. Hier hätte man mit einer anderen Art der Aufbereitung einen besseren, echteren Gesprächsverlauf nachbilden und auch freie Antworteingaben ermöglichen können.


Bei aller möglichen Kritik an der Echtheit solcher Gespräche oder Geschichtserzählungen bieten sie dennoch die Möglichkeit, ein tieferes Verständnis für eine Zeit oder eine Person zu schaffen und eine andere Zielgruppe anzusprechen als beispielsweise ein journalistischer Text. Dabei hat "Hier kommt Alex" gut gezeigt, wie eine personenbezogene Aufbereitung von Quellen und wissenschaftlichen Erkenntnissen aussehen kann, ohne zu überspitzen. Dank seiner zahlreichen Tagebücher, Briefe und Dokumente ist das für eine Person wie Alexander von Humboldt besonders gut möglich, wenn auch mit viel Rechercheaufwand. Leider konnte ich keine Informationen dazu finden, mit welchen Institutionen oder Wissenschaftlern RadioEins dafür zusammengearbeitet hat.


Ein solches Format lässt sich auch auf andere Epochen und Themen übertragen. Eine Möglichkeit kann sein, eine Gruppe Menschen der weiter zurückliegenden Vergangenheit in den Mittelpunkt zu stellen, anhand derer sich wissenschaftlich fundiert ein Ereignis erzählen und einordnen lässt. Und auch ein Wissenschaftler oder ein personifiziertes Objekt können ihre Geschichte erzählen und historische oder archäologische Methoden erklären. Denn wie so oft kam auch bei "Hier kommt Alex" neben der Darstellung der Ereignisse die Forschung zu Alexander von Humboldt kaum vor - leider.


Abschließend noch ein Hinweis: Ab Dezember erlaubt es WhatsApp nicht mehr, Newsletter zu verschicken. Das verkleinert den Kreis an Menschen, die man mit Chatbot-Geschichte erreichen könnte. Zwar ist der Facebook Messenger eine Alternative, wie RadioEins gezeigt hat, aber nicht für all diejenigen, die Facebook nicht (mehr) nutzen - und deren Zahl steigt. Die Messenger-App Telegram ist in Deutschland noch immer nicht sehr verbreitet. Eine gute Option ist womöglich Instagram. RadioEins hat die Geschichte von Alexander von Humboldt auch als Instanovel aufbereiten lassen. Wie beim Facebook Messenger-Chatbot gibt es hierfür jedoch keine Nutzerzahlen. Die Instanovel habe ich mir nicht angeschaut, aber schreibt gern etwas dazu in die Kommentare, falls ihr sie verfolgt habt.
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