Auch diesmal ließen sich aus den hunderten Sessions der re:publica größere Entwicklungen und Metathemen zu Internet und Gesellschaft ableiten, die nicht nur die Geister und Gefühle der Digitalverliebten beschäftigen. Der zunehmende Hass im Netz ist ein Punkt, der auch auch Historiker und Archäologen zum Nachdenken und Handeln anregen sollten. Denn Hass lässt sich in den Kommentarspalten auf Facebook- und bei Online-Medien auch gegen sie finden. Aber es gibt Handlungsmöglichkeiten gegen Hatespeech, Lügen und Gerüchte.
Hatespeech gegen Historiker und Archäologen ist nichts Neues, auch wenn die Kommentare in den letzten Jahren um einiges schärfer und gewaltbereiter geworden sind. Neben individuellen Ursachen lassen sich auch zumindest teilgesellschaftliche Tendenzen dafür erkennen, dass die Toleranzgrenze gegenüber Gewalt und gewaltandrohender, abschätziger, beleidigender Sprache steigt. Zudem macht der Unterschied zwischen Kommunikation live oder digital einen großen Unterschied. Digital erscheint weniger persönlich, weniger rechtlich greifbar und das Gegenüber weniger als echte, kränkbare Person. Hinzu kommt, dass im Netz immer mehr Informationen kursieren, die nicht richtig erklärt werden, deren Quellen im Dunkeln bleiben, die falsch kontextualisieren oder schlicht lügen. Zugleich haben nur die wenigsten Menschen gelernt, Quellen zu hinterfragen oder größere Zusammenhänge herzustellen. Stattdessen gelten Augenzeugen, der eigene Erlebnishorizont und das eigene Umfeld als objektiv und verlässlich.
Hatespeech zu Geschichte?
Historical Hatespeech nun, wie es Moritz Hoffmann und Charlotte Jahnz in ihrer re:publica-Session „‚ Meine Oma ist kein Mythos' - Warum die Facebook-Kommentarspalte die Geisteswissenschaften rettet " genannt haben, basiert genau darauf. Die von den beiden vorgestellten Beispiele waren Reaktionen auf Presseberichte zu neuen Forschungen zu den Trümmerfrauen und der Bombardierung Dresdens. Sie zeigen, dass zeitgeschichtliche Themen, von denen die Eltern oder Großeltern selbst berichtet haben und auf denen das Selbstverständnis einer ganzen Generation, um nicht zu sagen eines ganzen Landes beruht, ebenso emotionalisieren können wie beispielsweise die Flüchtlingsdebatte. Wenn neue Forschungen nun die Berichte der Oma oder den Wiederaufbau in ein anderes Licht rücken und damit die Basis dessen in Frage stellen, worauf das kulturelle Gedächtnis in Deutschland seit Jahrzehnten basiert, sind Leugnung und Beleidigung gegen den Forscher selbst bzw. die gesamte Historikerzunft eigentlich nicht überraschend.
Bei Archäologen ist die Situation ein wenig anders. Auch hier gibt es natürlich Themen, die emotionalisieren. Dabei geht es aber weniger um persönliche Bindung oder familiäre Erlebnishorizonte - Augenzeugenberichte sind zwar auch für die fernere Vergangenheit ein Thema, aber die wenigsten fühlen wohl eine persönliche Verbindung beispielsweise zu Caesar' - als um ideologische Ansichten beispielsweise zu Tacitus' Darstellung der Germanen. Archäologie emotionalisiert vor allem dann, wenn Menschen etwa von Ausgrabungen auf ihrem Grundstück persönlich betroffen sind, wenn regionale Vergangenheit zur Debatte steht (die Bindung an Ortsgeschichte ist oft überraschend hoch) oder wenn es um das Thema illegale Sondengänger vs. akademische Forschung geht. Dessen hat sich Jutta Zerres anhand des Beispiels des „Rülzheimer Barbarenschatzes" vor einiger Zeit angenommen. Er wurde von einem illegalen Sondengänger entdeckt, worauf zahlreiche Berichte und Leser-Kommentare folgten:
„Auch Spiegel Online griff am 18.2.(2014) das Thema auf und zu dem hier veröffentlichten Bericht ist die beachtliche Anzahl von 151 Kommentare bzw. Antworten auf Kommentare eingegangen (Stand 25.2.2014). Die Beiträge spiegeln eine erhitzte Debatte und wie durch ein Brennglas offenbaren sich Einsichten über die Wahrnehmung von Archäologen und der Arbeit der Bodendenkmalpflege„
Das Ergebnis: Es herrscht kaum ein Verständnis dafür, was einen illegalen Sondengänger von einem legalen Archäologen oder einem legalen Sondengänger unterscheidet. Vielmehr wird festgestellt, dass letztere eben zu unfähig sind, Schätze selbst zu finden, und gefragt, warum nun ausgerechnet der Finder bestraft werden solle. Die Wahrnehmung dreht sich stark um den Schatz und das Bild von Archäologen als Schatzsucher. Zudem gibt es auch aus der Archäologie andere Meinungen gegenüber Sondengängern - zum Beispiel von Raimund Karl, der zu weniger pauschaler Kriminalisierung als Aufklärung aufruft. Auffallend an den Kommentaren ist aber, dass die Bedeutung von Fundkontexten und deren Dokumentation oder die finanziell wie personell eingeschränkten Möglichkeiten der Landesämter kaum thematisiert werden.
Das Ergebnis sowohl von Moritz und Charlotte als auch von Jutta ist dasselbe: Geschichte emotionalisiert, Historiker, Archäologen und deren Arbeit werden zumindest von den Hatern nicht als Fachleute anerkannt - und vor allem diskutieren sie nicht mit. Weder zu Dresden und den Trümmerfrauen, noch zum Barbarenschatz gab es Gegenstimmen aus der Wissenschaft in den Kommentaren, niemand erklärte Quellen oder Kontexte und trug etwas dazu bei, das falsche Bild der Geschichte und ihrer Vertreter zu korrigieren.
Und nun?
Im Ergebnis riefen Charlotte und Moritz dazu auf, eine Taskforce gegen historical hatespeech zu gründen, die sich damit befasst, die Kommentarspalten zu Beiträgen zu historischen Themen zu lesen und dort mitzudiskutieren. Auch der Aufruf an Archäologen, sich nicht nur über falsche Wahrnehmungen zu beschweren, sondern aktiv etwas dagegen zu tun, ist immer häufiger zu hören - zum Beispiel von Rainer Schreg, Wissenschaftsblogger des Jahres 2015 mit Archaeologik). Nun gut, aber wie?
Passenderweise gab es während der re:publica eine Session, die sich genau dieser Frage annahm. Ingrid Brodnig berichtete in „ Nichts als die „Wahrheit" - Warum Lügengeschichten so gut funktionieren" von der Psychologie hinter Fakes und Hates im Netz und davon, mit welchen Gegenstrategien man diesen begegnen kann:
1. Kommentiert mit! Sonst bleiben die Dinge stehen und haften wie sie sind.
2. Hinterfragt die Quellen, Meinungen und Studien, die in den Artikeln genannt werden.
3. Zitiert Quellen, Gegenberichte, Experten - mit Links. Erklärt Kontexte und die Wissenschaftlichkeit eurer Arbeit, macht auf rhetorische Tricks aufmerksam.
4. Achtet auf eure Formulierungen. Anstatt zu schreiben, etwas sei falsch, sollte man die tatsächliche Gegebenheit darstellen - denn die wörtliche Wiederholung setzt sich fest, ob das Wort „falsch" daneben steht oder nicht.
5. Akzeptiert, dass man nicht alle aufklären kann. Aber sprecht die Leser und Kommentatoren an, die man noch überzeugen kann.
6. Akzeptiert Kompromisse, setzt auf Werte. Deutungshoheit ist ein einseitiger Begriff. Manchmal sind persönliche Ausdeutungen von Geschichte vielleicht nicht 100prozentig richtig, aber auch nicht gefährlich. Stattdessen erzeugen sie Bindung.
Diese Punkte klingen sicher leichter als sie sind und ihre Umsetzung erfordert Übung. Aber ohne sie wird der Umgang mit der Vergangenheit vielleicht immer öfter missbraucht anstatt historisches Wissen proaktiv und konstruktiv zu nutzen. Oder, um es mit den Worten von Moritz und Charlotte zu sagen:
„HistorikerInnen werden, weil sie kein Teil der Mitlebenden ihrer Forschungszeit sind, als inkompetent wahrgenommen. Wenn man diesen Gedanken zu Ende führt, ist unsere Disziplin abzuschaffen, da sämtliche historische Wahrheit nur durch mündliche Überlieferung der historischen AkteurInnen herstellbar wäre. „
„d ie Verfasserin greift nämlich nicht nur die „unverwertbare" Geschichtswissenschaft mit an (wobei ich argumentieren würde dass HistorikerInnen den Hauptteil des nicht-infrastrukturellen Wiederaufbaus geleistet haben), sondern plädiert auch für eine wissentlich verfälscht Geschichte, um eine „Feel-Good-Erzählung" zu erhalten. „
Update 25.05.Bei den Krautreportern ist gestern der Beitrag „ Eine Widerrede, bitte! " erschienen. Darin erklärt der Philosoph und „Counterspeech-Experte" Daniel Pascal Zorn, wie er sich auf Basis antiker Rhetorik-Ansätze, vor allem von Platon, in den sozialen Medien in Diskussionen einmischt und schlechte Argumentationen aufdeckt - nicht um selbst Recht zu behalten, sondern um Debatten zu öffnen und Gegenstimmen sichtbar zu machen:
„"Wir Philosophen sagen nicht die Wahrheit, wir geben keine Weltanschauung zum Besten. (...) Das sieht zwar oft so aus, weil Dialektiker erst mal dogmatische Weltanschauungen destruieren müssen, damit sie Platz bekommen, um die Debatte zu öffnen. (...)." Wie also sollen sich (nicht thematische, sondern Rhetorik-) Laien am besten an der Gegenrede beteiligen? (...) Manchmal reiche es schon, den absoluten Wahrheitsanspruch zu zerbrechen. (...) Das ist eine Haltung, die kann man polstern, mit Fakten, mit Fehlschlussanalysen, aber auch damit, auf Widersprüchlichkeiten hinzuweisen, alternative Perspektiven anzugeben. (...) Wenn ich mich in Counterspeech begebe, ist das natürlich eine Konfrontation für mein jeweiliges Gegenüber, also quasi eine Lektion in Widerstand, die nicht seiner Erwartung entspricht, es ist aber auch und vor allem eine Performanz für die stillen Lesern, die erwartungsgemäß immer in der Überzahl sind und immer mitlesen."