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Das Spiel des Lebens : Abhängen, rauchen, trinken: So sahen die Tage von Johnny Sandino aus.

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Johnny Sandinos neues Leben begann im Sommer 2004. Ein Cousin hatte ihm von einer Fußballschule erzählt und ihn zum Training mitgenommen. "Ich war neugierig", sagt Johnny, "und weil ich Fußball sehr mag, bin ich geblieben."

Zwei- bis dreimal pro Woche tauscht der 15-Jährige nachmittags die Schuluniform gegen das Leibchen, auf dem ein stilisierter Fußball in Grün, Gelb, Rot und Blau gedruckt ist - das Logo von "Fútbol por la vida" ("Fußball für das Leben"). Auf dem Sportplatz von Alajuelita im armen Süden von San José, der Hauptstadt Costa Ricas, trainiert Johnny in einer gemischten Mannschaft das Zusammenspiel, den Abschluss, die Taktik. Die Trainerin unterbricht das Training immer wieder, um den etwa dreißig Kindern, die zwischen zehn und 15 Jahre alt sind, Tipps und Anweisungen zu geben. Am Spielfeldrand beobachtet Marvin Solano das Training. Der frühere Fußballprofi ist Cheftrainer des Fußballprojekts. Er ist zufrieden mit dem, was er sieht. "Bei uns gibt es mindestens zwei Mädchen und zehn Jungs, denen ich den Sprung in den Profifußball zutraue", freut sich der 49-Jährige.

Dabei ist es weder Zweck noch Ziel von "Fútbol por la vida", die Fußballstars von morgen zu finden. Es geht auch nicht darum, die Besten eines Jahrgangs oder eines Viertels zu entdecken. Denn anders als bei den Fußballakademien der costaricanischen Erstligaclubs, die monatlich bis zu 100 Euro kosten und streng nach Leistung sortieren, kann bei "Fútbol por la vida" jeder kostenlos mitmachen. In Spielen gegen Mannschaften aus anderen Fußballschulen messen die Kinder zwar ihr Können, aber gewinnen müssen sie nicht. Die Sozialarbeiter stellen auch nicht die elf Besten auf, sondern achten darauf, dass alle spielen können. "Die einzige Voraussetzung ist, dass die Kinder aus schwierigen sozialen Verhältnissen kommen", sagt Roy Arias. Der 33-jährige Sozialarbeiter ist der Koordinator des Projektes und hat eine einfache Formel für seine Arbeit: "Wir verbinden Fußball mit Sozialarbeit", erklärt er. "Kinder aus Armenvierteln ohne Zukunftsperspektive haben bei uns die Möglichkeit zum Spielen und sie bekommen persönliche Unterstützung."

Die Idee zu "Fútbol por la vida" hatte vor drei Jahren ein deutscher Spielervermittler, der in Zentralamerika arbeitete. Er sah die vielen Kinder in den Elendsvierteln San Josés auf der Straße spielen, die barfuß oder in Badelatschen gegen Dosen oder alte Gummibälle traten.

Mit dem Konzept einer Fußballschule für Kinder aus sozial schwachen Verhältnissen ging er zu "Brot für die Welt", gemeinsam mit dem Bildungsinstitut der Lutherischen Kirche Costa Ricas entstand so das Projekt, das nicht nur Fußball lehrt, sondern rund 500 Mädchen und Jungen zwischen sieben und 18 Jahren auch Perspektiven für ihr Leben aufzeigt.

"Wir versuchen, ihr Selbstwertgefühl zu steigern, und bieten ihnen Gespräche zu Themen wie Drogen und Sexualität an", erzählt Sozialarbeiter Arias. Die Kinder üben, den Ball zu stoppen und mit dem Außenrist zu passen, und nebenbei sollen sie lernen, was es heißt, tolerant und solidarisch zu sein. Daher arbeiten neben den sechs hauptamtlichen Fußballtrainern auch zwei Psychologen und zwei Sozialarbeiter für "Fútbol por la vida". Auch sie sind regelmäßig beim Training dabei. Für viele Kinder ist das Projekt zur Ersatzfamilie geworden, hier können sie ihre schulischen und persönlichen Probleme besprechen. Fußball sei der beste Schlüssel, um Kinder für andere Themen zu sensibilisieren und ihr Vertrauen zu gewinnen, erklärt Melvin Jiménez, Präsident der Lutherischen Kirche Costa Ricas und Mitbegründer des Programms: "Fußball ist wie das Leben. Du verlierst, du streitest und freust dich und du trägst Konflikte aus. Manchmal musst du dich geschlagen geben und manchmal gehst du als Sieger vom Platz. Auf dem Spielfeld lernst du alles, was du später einmal brauchst."

Neunzig Prozent der Kinder wachsen in Elternhäusern auf, in denen das Leben von Armut, Alkohol und Arbeitslosigkeit bestimmt wird. Die Sozialarbeiter reden mit ihnen darüber, wie gefährlich es ist, Drogen zu nehmen; sie versuchen, die Kinder von einer kriminellen Karriere abzuhalten. Denn oftmals gleicht das Leben der Kinder dem ihrer Eltern, sagt Arias: "Viele brechen die Schule ab, manche werden kriminell und fast jedes unserer Kinder hat schon Erfahrungen mit Marihuana, Crack oder anderen Drogen." Durch das gemeinsame Training und die Möglichkeit zu reden sei schon viel erreicht: Die Kinder merken schnell, wenn jemand ihre Sorgen und Ängste ernst nimmt. Und sie wissen es zu schätzen.

So wie Johnny. Arias kann sich noch erinnern, wie der schwarzhaarige Junge anfangs rauchend und angetrunken zum Training kam - eine Zeit, an die der Junge nicht gern erinnert werden will. "Früher habe ich den ganzen Tag rumgegammelt", ist das einzige, was er dazu sagen möchte. Das hat sich geändert: Nach der Schule geht Johnny nach Hause und macht seine Aufgaben. Dann kommt er zum Fußball. "Er hat den Sprung geschafft", sagt Arias. Seit einem Jahr geht Johnny auf die weiterführende Schule. Er hat sein altes Viertel verlassen und wohnt nun bei einer Patentante, nicht weit entfernt von "Fútbol por la vida". Anschließend möchte er einen der Vorbereitungskurse für das Abitur machen, um studieren zu können. Nach Tejarcillos, in seine alte Welt, kehrt der Junge nur zurück, wenn er seine Großmutter besucht, bei der er 14 Jahre lang gelebt hat.

Maria Auxiliadora García hat für ihren Enkel kalte Limonade vorbereitet und zieht noch schnell den Schonbezug auf dem Sofa glatt. Zwischen Johnny und seine Oma drängeln sich Nichten, Neffen, Cousinen und Cousins. In drei Zimmern leben elf Menschen auf dreißig Quadratmetern. Das Wohnzimmer, wo der schuhkartongroße Fernseher den ganzen Tag läuft, dient zugleich als Küche. Tejarcillos liegt am südlichen Rand von San José und ist eines der ärmsten Viertel der Stadt. Jahrelang war es Ziel verarmter Kleinbauern, denen ihr kleines Feld kein Auskommen mehr ermöglichte und die deshalb ihr Glück in der Stadt suchten. Heute kommen vor allem Einwanderer aus dem benachbarten Nicaragua hierher. Für fast alle ist das Viertel Endstation der Träume von einem besseren Leben. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, die meisten Menschen leben vom Straßenverkauf:

Einige bieten Orangen oder Süßigkeiten an - andere Drogen. Früher gab es in Tejarcillos nur Behausungen aus Wellblech und Karton an unbefestigten Wegen. Inzwischen hat der Staat zumindest an manchen Stellen kleine, grün und gelb gestrichene Einheitshäuser gebaut und Straßen angelegt. Auch Johnnys Großmutter Maria konnte vor gut einem Jahr die alte Blechhütte gegen ein festes Dach über dem Kopf eintauschen.

Als Johnny ein Jahr alt war, siedelte seine Familie aus dem bettelarmen Nicaragua in das vergleichsweise wohlhabende Costa Rica um. Das zentralamerikanische Land, etwa so groß wie Niedersachsen, ist eine Ausnahme auf der schmalen Landbrücke zwischen Nord- und Südamerika. Während man mit Nicaragua, El Salvador und Guatemala vor allem Bürgerkrieg, Bandenkriminalität und Armut verbindet, hat sich Costa Rica in den vergangenen fünfzig Jahren den Ruf eines wirtschaftlich stabilen und demokratischen Landes erarbeitet, das in vieler Hinsicht an einen europäischen Wohlfahrtsstaat erinnert. Seit dem 19. Jahrhundert besteht Schulpflicht, was die Analphabetenrate unter fünf Prozent gedrückt hat. 1948 schaffte die Regierung die Armee ab und investierte das Geld in Bildung, staatliche Fürsorge und die Schaffung einer Reihe von Staatsmonopolen im Dienstleistungs- und Versorgungssektor. Seither sind Energie, Telekommunikation, Versicherung, die einzige Erdölraffinerie und große Teile des Bankensystems sowie der Alters- und Krankenvorsorge in den Händen des Staates. In Costa Rica genießen die staatlichen Universitäten einen besseren Ruf als die privaten - eine absolute Ausnahme für Lateinamerika. Nahezu überall fließt trinkbares Wasser aus den Hähnen und in fast jedem Winkel gibt es ein Telefonhäuschen. Zudem schuf der Staat in den vergangenen Jahrzehnten ein dichtes soziales Netz, das mit zu dem bescheidenen Wohlstand beitrug, der Costa

Rica den Beinamen "Schweiz Zentralamerikas" eingetragen hat. Nur jeder fünfte Costa Ricaner lebt in Armut, während sonst in Lateinamerika fast jeder Zweite nicht genügend zu essen und weder Strom noch fließendes Wasser in seiner Behausung hat.

Bei einem Spaziergang durch Tejarcillos erzählt Johnny von seinem früheren Leben. "Ich war von sieben bis zehn Uhr vormittags in der Schule, bin nach Hause, habe was gegessen und bin raus auf die Straße. Bis spätabends." Der Tagesablauf war immer gleich: abhängen, rauchen und trinken. "Manchmal haben wir Mango- und Apfelbäume geplündert und Vögel gejagt", sagt er. Seinen Vater hat Johnny nie kennen gelernt, seine Mutter war schwer krank und nicht in der Lage, sich um ihren einzigen Sohn zu kümmern, daher nahm ihn seine Großmutter auf.

Der Spaziergang führt über Schotterwege und enge unbefestigte Gassen, vorbei an brennenden Müllbergen und Abwasserrohren: "Hier an dieser Ecke verkaufen sie Drogen", erzählt Johnny. Marihuana kostet umgerechnet einen Euro, ein Stückchen Crack ist schon für 75 Cent zu haben. "Die große Mehrheit meiner Freunde hat Rauschgift genommen, ich habe nur getrunken", gibt Johnny zu. "Da, wo ich heute wohne, gibt es keine Drogen." Und Kriminalität? "Klar", sagt der 15-Jährige. "Viele meiner Freunde finanzieren sich mit kleinen Diebstählen und Überfällen."

Der Rundgang endet auf einer Anhöhe, dem höchsten Punkt von Tejarcillos. Von hier aus überblickt man das ganze Viertel. Dicht an dicht stehen die Wellblechhütten. Rund tausend Familien leben auf der Fläche weniger Fußballfelder zusammen. Und in jeder Hütte wohnen zwischen acht und zehn Menschen. Weiter hinten sieht man die besseren Viertel San Josés mit ihren Villen, Hochhäusern und Parks. Sie scheinen weit entfernt, hier in Tejarcillos. "Wäre ich nicht von hier, ich würde hier nicht nachts allein durch die Straßen gehen", sagt Johnny.

Mehr als zwei Jahre nachdem die Schule ihre Tore geöffnet hat, steigt die Nachfrage täglich. Vertreter aus Armenvierteln San Josés, in denen "Fútbol por la vida" nicht präsent ist, bitten darum, einbezogen zu werden.Auch aus anderen Städten des Landes kommen Anfragen. Doch das Geld reicht nicht aus. "Wir versuchen, niemanden abzuweisen, aber wir stoßen an unsere Grenzen", sagt Melvin Jiménez. Das Projekt besitzt keine eigenen Plätze, für die Trainingsstunden werden Anlagen von den Gemeinden, von Schulen oder Firmen angemietet; die sechs Trainer sind schon sechs Tage die Woche im Einsatz, um in drei verschiedenen Stadtteilen Kinder trainieren zu können.

Das Projekt hat so großen Erfolg, weil Fußball in Costa Rica die absolut wichtigste Sportart ist. Während sich in anderen Ländern Zentralamerikas der starke Einfluss der USA auch dadurch bemerkbar macht, dass mehr Baseball gespielt wird, huldigen die "Ticos", wie sich die Costa Ricaner selbst nennen, dem Fußball. Wenn die Nationalmannschaft spielt, kommen die Geschäfte im Land zum Erliegen und die Menschen versammeln sich vor dem Fernseher. Für die Fußballweltmeisterschaft werden in vielen Städten und Dörfern des Landes große Leinwände montiert, damit alle das Eröffnungsspiel gegen Deutschland am 9. Juni und die anderen Spiele der Nationalmannschaft verfolgen können. Für die Costa Ricaner ist es eine besondere Ehre, dass ihre Mannschaft die Weltmeisterschaft eröffnen wird. Beim Anstoß wird es in San José es elf Uhr vormittags sein. Nach dem Spiel wird in ganz Costa Rica nur noch gefeiert oder getrauert werden, je nachdem. Fest steht, dass an diesem Tag Schule und Arbeit Nebensache sein werden.

Johnny Sandino wird sich das Eröffnungsspiel natürlich auch anschauen, wo, das weiß er noch nicht. Er träumt davon, später selbst einmal im Mittelfeld der Nationalmannschaft zu stehen. "Wenn das nicht klappt, werde ich Ingenieur", sagt er. In naher Zukunft zählt etwas anderes: "Wir werden Deutschland schlagen."

Fotos: Klaus Ehringfeld & Torino / Mauritius
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