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Proteste in Mexiko: Wut auf die Eliten, Angst vor der Zukunft - SPIEGEL ONLINE - Politik

Wenig Zeit? Am Textende gibt's eine Zusammenfassung.

Wenn sich ein Präsident binnen weniger Tage zwei Mal in einer Fernsehansprache an sein Volk wendet, dann ist was faul im Staat. In Mexiko trat Staatschef Enrique Peña Nieto am vierten und neunten Tag dieses noch jungen Jahres vor die Kameras. Er wollte den sozialen Protest beruhigen, der sich seit Neujahr über das ganze Land ausgedehnt hat. Mindestens sechs Menschen wurden getötet und Dutzende verletzt. Hunderte Geschäfte wurden geplündert, vor Tankstellen wurden Feuer gelegt und Straßenbarrikaden errichtet. Mehr als 1500 Festnahmen meldet die Polizei.

Angesichts der Wut der Menschen wirkte Peña Nieto bei seinem ersten Auftritt rat- und hilflos, beim zweiten versuchte er immerhin, sich entschlossen und handlungsstark zu präsentieren.

Den plötzlichen Aufruhr ausgelöst hat der "Gasolinazo", so nennen die Mexikaner die Erhöhung der Benzinpreise um 20 Prozent zum Jahreswechsel. Der teurere Sprit zog weitere Preisschübe bei Strom, Gas und Nahverkehr nach sich. Für viele der rund 50 Millionen Menschen im Land, die ohnehin schon an der Armutsgrenze leben, sind diese Erhöhungen der Lebenshaltungskosten existenziell bedrohlich.

Der "Gasolinazo", so scheint es, war genau eine Zumutung zu viel für die Bevölkerung, in der sich seit Langem schon Ärger über die Regierung angesichts von Korruption, Inflation, Absturz der Währung, fehlende Reformen und gleichzeitiger Arroganz der politischen Klasse angestaut hatte.

Den Präsidenten im Golf-Urlaub überrascht

"Die Spritpreiserhöhung hat das Feuer an die Lunte gelegt", sagt María Antonia Casar, Präsidentin vom Verband "Mexikaner gegen Korruption und Straflosigkeit" (MCCI). "Die Menschen haben nicht vergessen, dass sich Abgeordnete und hohe Regierungsbeamte gerade noch ein Weihnachtsgeld von bis zu 25.000 Dollar genehmigt haben." Mexiko stehe ein kompliziertes 2017 bevor, befürchtet Casar.

Ähnlich sieht das der Politologe Gerardo Esquivel von der Hochschule "Colegio de México". Selbst in den Krisenzeiten der Achtzigerjahre und während der Wirtschafts- und Finanzkrise 1994 sei die soziale Spannung nicht so groß gewesen wie jetzt: "Es ist der perfekte Nährboden für eine Explosion."

Die Wut der Menschen erwischte die Machthaber völlig unerwartet. Fast alle Minister waren noch im Weihnachtsurlaub, Peña Nieto weilte auf einem Golf-Trip. Und wie üblich bei unerwarteten Ereignissen brauchte der Präsident einige Tage, bis er reagierte.

Dann ließ er sich in die Wohnzimmer der Mexikaner schalten, streckte während seines achtminütigen Auftritts die Hand scheinbar Hilfe suchend in Richtung Kamera und fragte suggestiv: "Was hätten Sie gemacht an meiner Stelle? Die Alternative zu Erhöhung der Benzinpreise wäre gewesen, Schulen und Krankenhäuser zu schließen."

Mexiko kann sich die künstlich niedrig gehalten Treibstoffpreise schon lange nicht mehr leisten. Der gefallene Ölpreis und die geringen Raffineriekapazitäten machen den Sprit immer teurer, denn das Land muss sein Öl billig exportieren und dann teuer als Benzin wieder einkaufen. Der chronisch ineffiziente staatliche Ölgigant Petróleos Mexicanos (Pemex) hat seit Jahren kaum in den Bau von Raffinerien investiert.

Auf die Frage des Präsidenten reagierten die Mexikaner in den sozialen Netzwerken mit scharfen Antworten: "Korruption und Straflosigkeit bekämpfen, Spritgutscheine für Regierungsbeamte abschaffen, multinationale Unternehmen höher besteuern", lauteten die Empfehlungen. Oder auch: das brandneue Präsidentenflugzeug verkaufen, das teurer war als die "Air Force One", die Ausgaben für die Garderobe der First Lady Angélica Rivera kürzen und zu guter Letzt - zurücktreten.

Aber dieses Mal begnügen sich die Mexikaner nicht wie sonst mit Spott in Tweets und Aufruhr im Internet. Jetzt gehen sie auch auf die Straße und fordern politische Konsequenzen. In 29 der 32 Staaten des Landes marschieren die Menschen seit dem Jahreswechsel gegen die Regierung, verbrennen Peña Nietos Konterfei und fordern seine Demission.

Zu alldem gesellt sich noch der künftige US-Präsident Donald Trump mit seinen Drohungen und Erpressungsversuchen. Die kürzlich abgesagte 1,6-Milliarden-Dollar-Investition des Autobauers Ford hat die Wirtschaft des Landes verunsichert und den Peso auf historische Tiefstände gedrückt. In den vergangenen zwei Jahren hat die Währung die Hälfte ihres Wertes gegenüber dem Dollar eingebüßt. Und Finanzexperten sehen noch kein Ende des Absturzes.

Die reale Bedrohung von zurückgehenden Investitionen, Strafzöllen und Mauerbau wird durch eine diffuse Angst in der Bevölkerung verschärft. Die Mexikaner wissen zu gut, dass das ökonomische Wohlergehen ihres Landes entscheidend vom ungeliebten großen Bruder im Norden abhängt.

80 Prozent aller mexikanischen Exporte nehmen die USA ab. Mehr als die Hälfte aller Direktinvestitionen kommen aus den Vereinigten Staaten. Macht Trump seine Drohungen gegen Mexiko wahr, dann könnte die zweitgrößte Volkswirtschaft Lateinamerikas in diesem Jahr in eine tiefe Krise rutschen. Die Weltbank senkte die Wachstumsprognose für 2017 für Mexiko am Dienstag auf 1,8 Prozent. Der Präsident der mexikanischen Zentralbank, Agustín Carstens, orakelt düster: "Trump kann zu einem Horrorfilm für Mexiko werden."

Im Video: Landesweite Unruhen wegen steigender Spritpreise

War das Krisenmanagement des mexikanischen Präsidenten bislang unglücklich, mutete seine neueste Personalentscheidung geradezu absurd an. Um Handlungsstärke beweisen, besetzte Peña Nieto den Posten des Außenministers um und holte einen seiner engsten Vertrauten zurück, den er erst vor vier Monaten als Finanzminister geschasst hatte. Luis Videgaray soll künftig die Kontakte zum neuen US-Präsidenten koordinieren. Ausgerechnet jener Mann also, der im US-Wahlkampf zu einer Einladung Trumps nach Mexiko geraten hatte. Der Besuch geriet zum politischen Desaster für Peña Nieto, weil er in den Augen vieler Mexikaner nicht entschieden genug gegenüber Trump auftrat und sich von ihm übertölpen ließ. Minister Videgaray musste gehen - nur um jetzt auf einen noch wichtigeren Posten zurückgeholt zu werden.

Eine "desaströse" Entscheidung, kritisiert Edgardo Buscaglia, Professor an der New Yorker Columbia Universität und Experte für Korruptionsbekämpfung. Sie zeige, dass Peña Nieto isoliert und politisch am Ende sei. "Die Wirtschaftskrise wird sich mit dem Druck Trumps dieses Jahr verschärfen und mit der steigenden Arbeitslosigkeit, der hohen Kriminalität und der Schwäche der Regierung" zu einem explosiven Cocktail mischen, so Buscaglia zu SPIEGEL ONLINE. "Es wird für die Regierung der perfekte Sturm werden." Und der könnte Peña Nieto tatsächlich wegfegen.

Zusammengefasst: In Mexiko sind die Benzinpreise erhöht worden - für viele Menschen war das die eine Zumutung zu viel. Denn es folgten Preisschübe bei Strom, Gas und Nahverkehr, die viel existenziell bedrohen. In Massen gehen die Menschen nun auf die Straßen, sie empören sich längst auch über Korruption, Reformstau und die arrogante politische Klasse im Land. Verschärft werden Wut und Ängste durch das schlechte Krisenmanagement von Präsident Peña Nieto - und die Drohungen des neu gewählten US-Präsidenten Donald Trump.

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