Dicht gedrängt stehen Besucher an der Empore, die Stühle sind kurz vor Beginn alle belegt, wer zu spät kommt, muss sich mit einem Stehplatz zufriedengeben. Der Grund: Es geht um die Angst. „Neues wagen? Unsere Angst vor dem Unbekannten" ist das Thema, das auf dem Herrenhäuser Podium mit Moderator Steve Ayan verhandelt wird. Die Welt scheint komplexer geworden zu sein, eine technische Innovation folgt der nächsten, Klimaforscher warnen vor einer Apokalypse, die Informationsflut wächst. Die Menschen haben Angst - oder wie Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff auf dem Podium sagt „Früher ist alles noch sehr überschaubar gewesen."
Was macht uns Angst?
Aber was macht uns eigentlich Angst? Vor zehn Jahren waren es noch die Lebenshaltungskosten, heute gilt Terrorangst als größter Angstmacher wie der Göttinger Psychiater Borwin Bandelow feststellt. Dabei muss das gar nicht so viel mit der Lebensrealität zu tun haben, denn Ängste sind subjektiv: „Tote durch E-Bikes sind häufiger als Tote durch Terror - und trotzdem warnt das Bundesinnenministerium nicht vor E-Bikes", konstatiert Bandelow. Das Publikum lacht. Der Angstforscher kann der Angst auch positive Seiten abgewinnen. Angst ist ein Überlebensfaktor, ein bisschen Angst vor Prüfungen ist leistungstechnisch wertvoll und Menschen mit sozialer Phobie, wie Bill Gates, können sogar besonders leistungsstark sein.
Lewitscharoff, die sich bereits 2014 in einer umstrittenen Rede gegen die Innovation der künstlichen Befruchtung aussprach, erweist sich auf dem Podium als Fortschrittsskeptikerin: Sie schwärmt von den Tagen in der Villa Massimo, als sie das Weltgeschehen weitgehend ausblenden konnte. Wenig soziale Stabilität, keine religiöse Erlösungshoffnung und das immense Weltwissen löse bei ihr eine Mischung aus Apathie und Unsicherheit aus. „Als ich jünger war, war das auch noch anders", sagt sie. Die Zuschauer nicken.
"Es ist möglich, dass der Mensch seine Existenz zerstört"
Auch Historikerin Elke Seefried plädiert für einen reflektierten Umgang mit Fortschritt. „Skepsis gegen Neuerungen hat sich historisch als folgerichtig erwiesen", weiß sie. Auf Wissenschaftseuphorie folgt die Ernüchterung. „In den Sechzigern und Siebzigern war das die Atomkraft-Debatte", sagt sie. Heute verändert das Wissen um die Ressourcenknappheit unsere Wahrnehmung der Umwelt.
Aber genau da liegt dem Wissenschaftsjournalisten Volker Sollorz zufolge auch das Problem der Moderne: „Es ist möglich, dass der Mensch seine Existenz zerstört - aber diese Angst spürt er nicht." Es gibt also doch Grund, Angst zu haben? Klimawandel, persönliche Ängste und Informationsflut - die Themen auf dem Podium sind so groß, dass die Argumente auch mal aneinander vorbeigehen.
Von Kira von der Brelie Original