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Ich-Booster im Internet: Ich will mehr Likes! - SPIEGEL ONLINE

Landschaftsaufnahme mit Retro-Filter: 21 Likes. Duckface-Selfie: 45 Likes. Schnappschuss mit dem Lieblingshund: 62 Likes. Ein Kommentar vom Schwarm: unbezahlbar.

Jeder, der schon mal auf Facebook Fotos, Videos oder Links gepostet hat, hat nach kurzer Zeit verstanden, was im Netzwerk gut ankommt, welche Posts also die besten Chancen haben, mit besonders vielen Likes ausgezeichnet zu werden. Manchen Leuten ist es sogar richtig peinlich, wenn ihr Foto kein einziges Mal gemocht wird - sie löschen es nach einer halben Stunde wieder. Beim nächsten Mal wird sich mehr Mühe gegeben in der Auswahl des Motivs. Vielleicht war aber auch der Spruch nicht originell genug.

Keiner kann es leugnen: Wir alle freuen uns über positive Reaktionen, wenn wir etwas aus unserem Leben teilen. Und sind ein bisschen enttäuscht, wenn es keinen interessiert. Um nicht immer wieder feststellen zu müssen, dass unsere Bilder oder Videos von niemandem beachtet werden, lernen wir schnell, was gut ankommt - und richten unsere "Öffentlichkeitsarbeit" auf die Gesetze der sozialen Aufmerksamkeit aus. Wir lassen uns konditionieren.

Irgendwann verliert man das Gefühl für sich selbst

Die Regeln sind klar: Je angesagter die Location ist, in die man sich eincheckt, desto mehr Leute sind beeindruckt. Je stylischer das Outfit auf dem Selfie, desto mehr begeisterte Kommentare. Also überlegen wir genau, was wir von unserem Leben preisgeben. Wir wägen ab, selektieren - und präsentieren dann die bestmögliche Version von uns. "Wir lernen, dass ein Post aus dem Museum weniger für Furore sorgt als einer von der Kartbahn. Diesen Regeln unterwerfen sich die Nutzer sozialer Netzwerke. Anstatt also zu leben, macht man sich Gedanken darüber, was man berichten kann - diese Gefallsucht kann zur Falle werden", sagt Heike Kaiser-Kehl, Diplom-Psychologin bei dieonlinepsychologen.de. Hier berät die 49-Jährige Hilfesuchende schriftlich und telefonisch.

Das Problem sieht die Expertin auch darin, dass es irgendwann in Stress ausarten kann, auch ja etwas Aufregendes aus dem eigenen Leben in die digitale Welt hinausposaunen zu müssen. Was aber, wenn gar nichts Spannendes passiert? "Man betrachtet das eigene Leben zunehmend durch die Augen anderer, weil die Außenwirkung das Allerwichtigste wird", sagt Heike Kaiser-Kehl. "Wer sich für Facebook und Co ein zweites Ich erschafft, kann in seiner Eigenkreation gefangen bleiben. Im Extremfall zieht sich derjenige aus der wirklichen Welt zurück, weil er von den echten Freunden nicht enttarnt werden will", weiß Heike Kaiser-Kehl und warnt, dass es auch zum Zwang werden kann, sich möglichst hip im Netz zu präsentieren. Denn an einem gewissen Punkt verliert man das Gefühl für sich selbst.

Klar, für manche kann die Jagd nach der eigenen Optimierung zur Falle werden, für andere hingegen zum Ansporn, wirklich etwas aus dem eigenen Leben zu machen und so das Optimum aus sich herauszuholen. "Man erschafft sich einen Schuh, in den man noch reinwächst - das wäre dann ein positiver Aspekt der digitalen Selbstoptimierung. Eine Art Motivation, das Beste aus dem eigenen Leben zu machen und die Dinge anzupacken", gibt Heike Kaiser-Kehl zu bedenken.

Wann die Selbstinszenierung zum Problem wird

Die Selbstdarstellung in sozialen Medien ist also nicht rein negativ aber auch nicht unbeschränkt positiv. Denn: "Positives Selbstdarstellen ist für jeden ein Anliegen, nicht nur im Internet. Es ist ganz natürlich, dass man sich einen guten Standpunkt in der sozialen Gruppe wünscht, bei Jugendlichen ist das sogar noch stärker als bei Erwachsenen. Generell gilt: Je stärker die Persönlichkeit, desto weniger braucht man die Bestätigung", sagt Jugendpsychologe Holger Simonszent.

Die Problematik aber ist, dass viele ihre soziale Gruppe im Internet gar nicht kennen, sich also für Fremde inszenieren. Bedenklich für die Psyche wird diese Sucht zur Selbstdarstellung, weil man bis zum 25. Lebensjahr die eigene Persönlichkeit ausbildet. Wer sich also in der Pubertät nur danach richtet, wie die Facebook-Freunde einen finden, könnte auf dem Holzweg sein. Denn 600 Verbindungen sind noch lange kein fester Freundeskreis.

Und was, wenn einem klar ist, dass man längst für die Selbstinszenierung im Netz lebt? "Ich empfehle, erst einmal komplett auszusteigen und wieder ein echtes Leben zu entwickeln. Eine Übung in Achtsamkeit kann jetzt helfen: Wie würde ich mich selbst beschreiben, wenn keiner zuhört? Und dann sich eins klarmachen: Jeder reale Freund ist eine Errungenschaft", erklärt Heike Kaiser-Kehl.

Damit sich keiner Sorgen machen muss: Wer sich über einen netten Kommentar oder ein paar Likes freut, hockt noch lange nicht in der Selbstoptimierungsfalle. Wer aber merkt, dass die eigene Stimmung stark von der Bewertung anderer abhängt, sollte sich mal Gedanken machen. Jeder hat ein Verlangen nach Anerkennung, keine Frage. Aber wer seinen Tagesablauf danach ausrichtet, wann er welches Foto von sich bei Instagram teilt, sollte innehalten und überlegen, ob es nicht auch ganz schön anstrengend ist, sich ständig im Netz von der Schokoladenseite präsentieren zu müssen.

Vielleicht sollten wir uns alle viel öfter mit einem Eis auf eine schöne Wiese setzen und das Leben genießen. Einfach so. Ohne davon ein Foto zu machen, ohne uns einen flotten Spruch zu überlegen, ohne ein Tweet. Einfach nur die Vögel zwitschern hören, die frische Luft atmen und das Gras streicheln. Nur für uns selbst und niemanden sonst.

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