Die Furcht vor Billigimporten aus China treibt die Stahlkocher auf die Straße: Tausende Arbeiter aus ganz Europa haben in Brüssel für einen fairen Wettbewerb demonstriert. Sie sehen die gesamte Industrie in Gefahr.
Brüssel/Düsseldorf - Mehrere tausend Stahlarbeiter aus ganz Europa marschieren durch das Europaviertel in Brüssel. Sie sind mit Schutzwesten in Neonfarben bekleidet. „Yes to fair trade, no to MES" oder: „Stoppt das China-Dumping" heißt es auf den Schildern und Fahnen, die sie hochhalten. Die Demonstranten tröten, pfeifen, wollen auf sich aufmerksam machen. Einige von ihnen zünden immer wieder Böller. Die Stahlkocher gehen gemeinsam mit ihren Arbeitgebern, Gewerkschaftlern und den Belegschaften anderer Industriebranchen in Richtung EU-Kommission, um gegen die existenzbedrohenden Billigimporte aus China zu demonstrieren.
„Es geht hier um unsere Zukunft, um unsere Arbeitsplätze", sagte Ralf Hoffmeister von den Stahlwerken Bremen, die zu Arcelor-Mittal gehören. Seit 17 Jahren arbeitet er dort in der IT. Für ihn war klar, dass er beim Protestmarsch mitgeht: „Nicht nur unsere Branche ist betroffen - China kann in allen Bereichen Preise subventionieren und eine Spiralwirkung erzeugen!" Ein britischer Kollege fügt hinzu: „Es geht uns alle etwas an!"
Für den neuen Präsidenten des europäischen Stahlverbandes Eurofer, Geert van Poelvoorde, geht es um nichts weniger als die Zukunft der europäischen Stahlindustrie: „Das ist ein Notruf", sagte er dem Handelsblatt am Montag. „Mit den Protesten wollen wir der Politik klar machen, wie dringend die Situation für die europäische Stahlbranche ist." So seien innerhalb der vergangenen sechs Monate bereits rund 7000 Jobs in europäischen Hütten verlorengegangen. Poelvoorde ist auch Chef der europäischen Flachstahlsparte von Arcelor-Mittal, dem weltweit größten Stahlproduzenten.
Vor der Büste des früheren französischen Ministerpräsidenten Robert Schuman versammelt sich die Menge. Er war Initiator der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl und gilt neben Jean Monnet als einer der Gründungsväter der Europäischen Union. „Wir brauchen Regeln, um mit China konkurrieren zu können", redet sich einer der Redner auf der Bühne vor Wut. Er legt nach: „Unsere Qualität ist viel besser." Später werden die Demonstranten symbolisch Tausende von Schutzhelmen vor den EU-Institutionen niederlegen.
Die Proteste richten sich vor allem gegen China. Die vielfach schon Verluste schreibenden europäischen Stahlkonzerne werfen den chinesischen Herstellern vor, ihre gewaltigen Überkapazitäten um fast jeden Preis auf den Weltmarkt zu werfen. Viele Stahlsorten würden weit unter Herstellungskosten angeboten und damit zu erheblichen Verwerfungen führen. Die EU-Kommission hatte zuletzt am Freitag vorläufige Schutzzölle in drei Fällen beschlossen und zusätzliche Anti-Dumping-Maßnahmen für weitere Sorten auf den Weg gebracht.
Bedrohung für die gesamte Industrie EuropasFür Eurofer-Präsident Poelvoorde, gleichzeitig auch Chef der europäischen Flachstahlsparte von Arcelor-Mittal, ist das zu wenig. „Die EU hat selbst festgestellt, dass eigentlich Zölle in Höhe von 60 Prozent notwendig wären, um faire Bedingungen zu schaffen. Verabschiedet hat Sie aber nur Strafzölle zwischen 13 und 16 Prozent, das ist lächerlich."
Poelvoorde fordert daher, die Berechnungsgrundlage solche Schutzmaßnahmen zu verändern. Außerdem müsse die Kommission viel schneller als bisher reagieren und Schutzzölle auch rückwirkend verhängen. Von der Welthandelsorganisation WTO erhofft sich Poelvoorde in dem Konflikt mit China wenig, „Das dauert viel zu lang."
Schätzungen zufolge haben sich zwischen 3500 und 5000 Stahlarbeiter am Brüsseler Jubelpark versammelt. Sie protestieren für ihre Jobs und einen fairen Handel - und gegen die Anerkennung Chinas als Marktwirtschaft. Konkret geht es um den MES (Market Economy Status), der es China ermöglichen würde, ihre Preise international durchzusetzen. „Wenn China den MES zugesprochen kommt, haben wir keine weiteren Möglichkeiten mehr, Anti-Dumping-Maßnahmen zu betreiben", fasste Milan Nitzschke, Präsident von Aegis Europe, zusammen. Im Verband sind mehr als 30 Industriesektoren aus Europa Mitglied. Bisher hat China von fünf erforderlichen Kriterien für den MES nur eine einzige getroffen.
Axel Eggert von Eurofer sieht schwarz für die Zukunft, wenn die EU nicht handelt: „Es ist nur der Anfang einer Entwicklung." Der Leiter für Kommunikation beim Wirtschaftsverband sprach von einer Bedrohung der industriellen Wertschöpfungskette: „Wenn einzelne Glieder rausfallen, was hält die Automobilindustrie noch in Europa?" Es sei von einem Dominoeffekt auszugehen. Die ersten Auswirkungen des chinesischen Billigimports sind bereits zu spüren: Seit 2008 wurden EU-weit 85.000 Jobs gestrichen, 7000 allein in den vergangenen sechs Monaten.