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Unter Uns: Jüdisches Leben in Mainz

Bei einem Besuch der Neuen Synagoge im Herzen der Neustadt könnte man meinen, Mainz käme schon im Alten Testament vor. Im Gebetsraum prangt ein goldener hebräischer Schriftzug an der Wand, den man als „Magenzenta" lesen kann. Auch wenn Mainz so alt nicht ist: Magenza - so der mittelalterliche Stadtname - war eine der ersten jüdischen Gemeinden Deutschlands, deren Anfänge bis ins 10. Jahrhundert zurückgehen. Nimmt man noch Speyer (Schpira) und Worms (Warmaisa) dazu, ergibt sich SchUM, eine Abkürzung aus den hebräischen Anfangsbuchstaben der drei Rheinstädte. Die drei Gemeinden machten sich im Mittelalter einen Namen als bedeutende jüdische Zentren. Ihre Rabbiner waren Autoritäten in religiösen und rechtlichen Fragen. „SchUM, das ist für uns Juden total wichtig und aufregend", sagt die Berliner Autorin und Bloggerin Juna Grossmann bei einer Lesung neulich in Mainz. „In der jüdischen Welt ist SchUM eine Wortmarke", bestätigt auch Dr. Susanne Urban, die Geschäftsführerin von SchUM-Städte e.V. Damit SchUM in seinem Facettenreichtum noch bekannter wird, ist der Verein in allen drei Städten aktiv. Dem Faszinosum SchUM könne sich niemand entziehen - „ob Jude oder Nichtjude, ob Kunsthistoriker, Architekt, Historiker, Jurist oder einfach neugieriger Mainzer".

Reges jüdisches Leben in der Stadt

Doch was macht eigentlich eine jüdische Gemeinde in einer für das Judentum historisch so bedeutenden Stadt? Über die Jahrhunderte erstreckte sich das Judenviertel im Dreieck zwischen Stadthaus-, Klara- und Flachsmarktstraße. Dem Namen nach erinnert heute nur noch die Vordere Synagogenstraße an die damaligen „Judengassen". Mit der Weisenauer Synagoge gab es zu Beginn des 20. Jahrhunderts sogar vier Synagogen in Mainz. Zur Zeit der nationalsozialistischen Machtübernahme herrschte hier ein reges Leben mit etwa 2.600 Mitgliedern. In der Pogromnacht 1938 wurden die Synagogen in der Hindenburg- und Flachsmarktstraße dann komplett zerstört. Während des Krieges wurden etliche jüdische Bürger deportiert und etwa 1.400 Mainzer Juden enteignet und ermordet. Nach dem Holocaust kehrten nur wenige zurück. Und so wuchs in den folgenden Jahrzehnten auch die jüdische Gemeinde nur sehr langsam.

Ein Glücksfall sozusagen war der Zusammenbruch der Sowjetunion, in dessen Folge viele Juden nach Deutschland auswanderten - so wuchs auch die Mainzer Gemeinde ab den 90er- Jahren sprunghaft an: „Wir sind diesen Menschen sehr dankbar. Ohne sie hätte die jüdische Gemeinde keine Perspektive gehabt", sagt Aharon Vernikovsky, der Rabbiner der neuen Mainzer Synagoge. Seit 2010 ist sie wieder errichtet. Der hochgelobte postmoderne Repräsentationsbau des Architekten Manuel Herz soll auch für die neu gewonnene Normalität jüdischen Lebens in Deutschland stehen. Er beherbergt die jüdische Gemeinde mit ihren heute rund 1.000 Mitgliedern - immer noch eine eher kleine Gemeinde. Rabbiner Vernikovsky hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Gemeinde stärker zu öffnen - etwa mit den ersten Jüdischen Kulturtagen im vergangenen Herbst. Für die Gemeinde ein Spagat zwischen dem Wunsch nach Öffnung und Dialog einerseits, aber auch der ständigen Angst und abstrakten Bedrohung andererseits, gerade wieder heutzutage. Gästeführerin Karla Martin weist darauf hin, dass sich im Inneren der Synagoge kaum ein rechter Winkel findet. Selbst die Treppenstufen sind auffällig „schepp": „Die Architektur verweist damit auf Schritt und Tritt darauf, dass die Welt nach der Shoah buchstäblich aus dem Lot geraten ist." Wie sehr die Welt für Menschen jüdischen Glaubens nach wie vor aus dem Lot ist, zeigt sich auch an der ständigen Polizei-Präsenz vor der Synagoge.

Wachsender Antisemitismus?

Die Zahl gemeldeter antisemitischer Straftaten in Rheinland-Pfalz ist nach Angaben des Landeskriminalamts im ersten Halbjahr 2018 leicht gestiegen: auf 15 Straftaten. Nach Ansicht des Antisemitismus- Beauftragten von Rheinland-Pfalz, Dieter Burgard, sei das gesellschaftliche Klima dennoch judenfeindlicher geworden. Ein Schritt hin zu mehr Dialog ist auch die neue Israelprofessur (siehe Interview rechts). Derzeit befinden sich die SchUM-Städte zudem in der heißen Phase, um als UNESCO-Welterbe anerkannt zu werden. Anfang 2021 könnte es so weit sein. Bis dahin gibt es noch viel zu tun für Susanne Urban, die Geschäftsführerin des SchUM-Vereins, und ihre Mitstreiter: „Wir sind auf einem guten Weg, die vielen Partner - das Land, die jüdische Gemeinde, Universitäten, die Städte mit all ihren Fachämtern, alle sind daran interessiert, dass wir 2021 sagen können: SchUM ist Welterbe!" Für die Stadt ist SchUM nicht zuletzt auch ein touristisches Argument: Mittelfristig sollen etwa ein Besucherzentrum nahe des alten jüdischen Friedhofs - genannt Judensand - an der Mombacher Straße errichtet werden. Dort befinden sich teils uralte moosbewachsene Grabsteine aus dem 11. Jahrhundert. Die Ruhe der Toten ist auf jüdischen Friedhöfen unantastbar, deshalb ist der Denkmalfriedhof nicht öffentlich zugänglich. Aber auch das Haus des Erinnerns in der Großen Bleiche wurde vor Kurzem vom Bund gefördert und zeugt vom bleibenden Charakter des Nicht-vergessen-Wollens.

Text Katja Marquardt Fotos Manuel Herz, Carsten Costard

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