Automatiktüren, Abgesenkte Bordsteine, unkonventionelle Parkplätze: Auf dem Gelände von Boehringer Ingelheim sind Maßnahmen zur gleichberechtigen Teilhabe von behinderten Mitarbeitern sichtbar. Unsichtbarer dagegen ist die behindertenfreundliche Haltung im Betrieb, die systematisch umgesetzt wird. Eine Visite in Biberach an der Riß.
Zehn Meter allmählich die Rampe hinunter, dann großzügig Platz für die 90-Grad-Kurve nach rechts, die Tür öffnet sich drei Meter vorher automatisch: Der Weg in das Gebäude G91 ist für Jessica Meyer* schnell erledigt. Die kaufmännische Auszubildende fühlt sich seit zwei Jahren im Betrieb gut aufgehoben und hat in die Hälfte der Gebäude barrierefreie Zufahrt, in jeden Neubau sowieso. Bei Boehringer ist das kein Zufall, sondern Beteiligung: Die Rollstuhlfahrer im Werk wurden vor der Konstruktion der Rampe mit eingebunden, treffen sich bei einem eigenen Stammtisch und tauschen sich über organisatorische Themen oder den "Kampf mit den Behörden " aus. "Beim Stammtisch habe ich andere Rollstuhlfahrer kennengelernt, die schon länger im Unternehmen sind", freut sich IG-BCE-Mitglied Meyer, dass sie nicht allein ist.
Absprachen dieser Art sind Teil eines systematischen Aktionsplans, den Boehringer Ingelheim 2012 zur Umsetzung der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen entwickelt hat und bis 2020 umsetzen will. Auf dem Gelände und an den Arbeitsplätzen, aber auch in den Köpfen der Mitarbeiter will das Unternehmen eine Haltung schaffen, die die "Fähigkeiten von Menschen mit Behinderungen wertschätzt und integriert", heißt es im Plan. 2013 lag der Fokus auf Bewusstseinsbildung und Öffentlichkeitsarbeit, 2014 wurden Maßnahmen zur Arbeitsplatzgestaltung und Arbeitsorganisation aufgegriffen. Im aktuellen Jahr ist die Gesundheitsprävention der Schwerpunkt.
Der Aktionsplan ist ganz im Sinne von Betriebsrätin und IG-BCE-Mitglied Maria Anna Gasser. Als Schwerbehindertenvertreterin steht sie formell knapp 200 Biberacher Beschäftigten mit gemeldeter Schwerbehinderung zur Seite. "Es gibt zudem viele Behinderungen, die nicht sichtbar sind. Nicht alle trauen sich, sie öffentlich zu machen oder einen Ausweis zu beantragen. Für diese Personen ist es noch wichtiger, dass wir uns für sie einzusetzen", sagt Gasser. "Mitarbeiter, die gesundheitlich angeschlagen sind, haben teilweise Angst. Wenn sich Gesundheitsaspekte bei Beschäftigten ändern, kommt die Personalabteilung auf mich zu", ist die Schwäbin zufrieden mit der Zusammenarbeit im Unternehmen. Initiator des Aktionsplanes ist Olaf Guttzeit, Personalmanager und Schwerbehindertenbeauftragter auf Arbeitgeberseite. Eigentlich liegt die Schwerbehindertenquote im Werk Biberach etwas unter den gesetzlich vorgeschriebenen fünf Prozent. Gasser wäre es lieb, mehr schwerbehinderte Mitarbeiter und Auszubildende einzustellen. "Wir achten in den Einstellungs- und Übernahmegesprächen darauf, aber es bewerben sich zu wenige."
Die ihr bekannten Mitarbeiter mit Beeinträchtigungen der Wahrnehmung, des Bewegungsapparats oder mit schweren Krankheiten fragt Gasser, was sie konkret benötigen. Ob einen Parkplatz auf dem Rasen neben der Gebäudetür, im Winter und bei Fahrdiensten Hilfe vom Werkschutz, das Essen in der Kantine an den Tisch gebracht oder einen Anruf, sobald eine Straße im Werk gesperrt ist: "Wir helfen den Mitarbeitern und informieren sie auf dem kurzen Dienstweg. Jeder bekommt die Ausstattung, die er zum Arbeiten braucht - also weniger nach dem Gießkannenprinzip. Da gab es noch nie Probleme mit dem Unternehmen", beschreibt Gasser die unbürokratische Haltung.
Das kann auch Fabian Maucher bestätigen. Beim Mittagessen an den höhenverstellbaren Tischen in der Kantine erzählt der Teamleiter, der ebenfalls im Rollstuhl sitzt, von 20 Projektassistentinnen im Bereich Medizin: "Es ist angenehm, dass mit dem Thema Behinderung offen umgegangen wird. Es gibt jemanden, der sich darum kümmert." Vor zehn Jahren hat er bei Boehringer Ingelheim wie Meyer als Auszubildender angefangen und seither dieselbe Haltung im Unternehmen gespürt. Dennoch will Maucher nicht besonders behandelt werden: "Wir müssen uns beruflich beweisen wie alle anderen auch", fügt er hinzu.
*Name von der Redaktion geändert
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