23. Mai 2017
Arte strahlt eine vom Sender bestellte Dokumentation über Antisemitismus nicht aus - die Autoren wehren sich dagegen.
Es ist ein normaler Tag in Deutschland im Jahr 2016, durch die Straßen Berlins zieht mal wieder eine pro-palästinensische Demo. Die Kamera zeigt Transparente, sie zeigt Menschen, die Parolen skandieren. Und dann erklärt ein junger Mann seelenruhig, Israel sei ein Konstrukt des Imperialismus an dessen Stelle ein multiethnischer Proletarierstaat treten müsse.
Anderer Tag, andere Stadt, anderes Publikum: Kirchentag 2015 in Stuttgart. Dort präsentieren sich auch einige der geschätzt 1000 pro-palästinensischen NGOs. Eine Frau mit kurzem grauen Haar, Aktivistin des "Ökumenischen Begleitprogramms für Israel und Palästina", erklärt in die Kamera, Israelis würden jetzt mit Palästinensern verfahren, wie "mit ihnen verfahren" worden sei - denn sie steigerten sich in die Opferpsyche hinein. Es ist völlig klar, die Frau redet gerade vom Holocaust: "Da hat sich einfach das Opfersein tief in die Seele eingegraben."
Noch ein Szenenwechsel: Europaparlament, Juni 2016. Palästinenserpräsident Abbas hält eine Rede, in der er behauptet, israelische Rabbiner hätten die Regierung aufgefordert, Brunnen im Westjordanland zu vergiften. Der Jude als Brunnenvergifter - ein antisemitisches Motiv mit langer Geschichte. Die Kamera zeigt die Abgeordneten. Keinerlei Empörung, stattdessen Applaus am Ende. Ein "anregender" Vortrag, twittert der damalige Parlamentspräsident und heutige SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz. All diese Szenen könnten TV-Zuschauer sehen - wenn denn der Sender Arte sich entschließen würde, die TV-Dokumentation "Auserwählt und ausgegrenzt - der Hass auf Juden in Europa" auszustrahlen. An sich war das auch der Plan. Schließlich hat der Sender diese Dokumentation bestellt, mitfinanziert wurde sie im Auftrag des WDR. Aber Arte wird den Film nicht zeigen. Das geht aus einem Schreiben des Programmdirektors an die Autoren Sophie Hafner und Joachim Schröder von der Münchner Film- und Fernsehproduktionsgesellschaft Preview Productions hervor, das vom Programmdirektor Alain Le Diberder unterzeichnet ist und der BZ vorliegt.
Die Begründung des Senders ist eine formale: Der fertiggestellte Film entspreche in wesentlichen Punkten nicht dem Projekt, das die Programmkonferenz genehmigt habe. Der Film liefere keinen Überblick über die Lage in Europa, lautet ein Grund. Der andere: Der israelische Islamismusexperte Ahmad Mansour, der die "Ausgewogenheit" des Films habe garantieren sollen, habe im Verlauf des Projekts vom Co-Autor zum Berater gewechselt. Das mag rein faktisch zutreffen, wer aber den Film gesehen hat, für den muten die Argumente seltsam an - ein Vehikel, um jede inhaltliche Auseinandersetzung zu vermeiden. An anderer Stelle in dem Brief wird auch deutlich, dass es zumindest im Vorfeld eine Kontroverse dieser Art gegeben haben muss "von mehrfacher Überarbeitung des Projekts und einem ausdrücklich negativen Votum" der französischen Konferenzmitgliedern ist die Rede.
Es scheint, als habe sich nach den Terroranschlägen auf die Redaktion der Satirezeitschrift Charlie Hebdo und den koscheren Supermarkt in Paris Angst durchgesetzt. Ein Jahr lang habe man zusammen mit der zuständigen Redakteurin für den Auftrag gekämpft, sagt Sophie Hafner - und kurz vor Abnahme des Films hätten sie dann Zeichen aus dem Sender erreicht. Der Film schütte angesichts der Terrorgefahr in Frankreich Öl ins Feuer, habe es hinter vorgehaltener Hand geheißen, er sei nicht ergebnisoffen, sondern antimuslimisch und proisraelisch. Was daran stimmt: die Autoren nehmen eine bestimmte Erzählhaltung ein - sie beschäftigen sich in der Tat nicht mit Antiislamismus, sondern untersuchen genau das, was sie ankündigen: die Stereotypen des modernen europäischen Antisemitismus, der sich nicht nur in Hakenkreuzschmierereien ausdrückt, sondern als Antizionismus bei Pegida, AfD und Querfront findet und auch innerhalb von Teilen der muslimischen Einwanderergesellschaft. Gedreht haben sie für ihr bedrückendes Roadmovie in Deutschland, Frankreich, Israel und Gaza.
Seltenheitswert haben die Bilder aus Gaza, die das Klischee vom perspektivlosen Leben im Elend teils konterkarieren und den Blick auf einen Teil der Bevölkerung richten, der sonst nicht oft in Medien oder über Hilfsorganisationen zu Wort kommt: da werden Studenten vor einer der vier Universitäten interviewt, die sich kritisch über die Hamas äußern, über dunkle Kanäle, in denen Hilfsgelder für den Gazastreifen verschwinden, die sich eine Zwei-Staaten-Lösung wünschen. Man wird Zeuge eines Treffens mit einem Hamas-Politiker in einem erstaunlich feinen Hotel am Mittelmeer, der lächelnd erklärt, dass Jerusalem in Gänze zu einem palästinensischen Staat gehören muss.
Um ihren sehr sehenswerten Film kämpfen die beiden Autoren - und erhalten dabei inzwischen die Unterstützung mehrerer namhafter Nahost- und Antisemitismusexperten. Dazu gehören die Historiker, Götz Aly und Michael Wolffsohn, der Filmemacher Samel Schirmbeck und der Islamismusexperte Mansour. Der Film sei "überfällig" urteilt dieser. "Natürlich ist manches unbequem", schreibt Mansour. Der langjährige ARD-Nahost-Korrespondent Schirmbeck urteilt, der Film sei von Anfang bis Ende plausibel, rücke Unbekanntes und Verdrängtes in den Vordergrund - einen "Boykott" des Films vergleicht er mit dem Boykott israelischer Produkte. Wolffsohn nennt den Film "die mit Abstand klügste und historisch tiefste, zugleich leider hochaktuelle und wahre Doku zu dem Thema". Wenn die Doku nicht ausgestrahlt werde, fordere er dazu eine öffentliche Diskussion ein. Die Filmemacher haben in einem Schreiben den WDR gebeten, die Ausstrahlung des Filmes zu übernehmen, wenn Arte dies nicht wolle. Bisher ohne Erfolg.
Autor: Katja Bauer