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Nachts mehr Zeit für Zuwendung

Foto: Reikowski

Eines hat sich die Altenpflegerin geschworen: Diese Arbeit aufzugeben, wenn sie kein Gefühl mehr aufbringen kann für die alten Menschen. "Noch habe ich genügend Gefühl", sagt Margot Schnaitter. Nachts wacht sie im Altenheim über ihre Bewohner.

Wasserburg - Margot Schnaitter leitet eine Station mit fast 30 Betten in der Betreuungszentrum GmbH von Krohn&Leitmannstetter in der Burgau. Wenn sie Nachtschicht hat, betreut sie die Bewohner alleine. Der Großteil leidet an Demenz. Sie fasst das so zusammen: "Meine alten Leute brauchen Hilfe, sich bettfertig zu machen, nachts auf die Toilette zu gehen und manchmal auch Unterhaltung, wenn der Tag- und Nachtrhythmus nicht stimmt."

Zu Beginn der Schicht gibt es mit noch Wachgebliebenen eine späte Brotzeit, dann folgt die Stationsübergabe, anschließend eine Runde mit den letzten Medikamenten des Tages. Um 23 Uhr startet sie den ersten Kontrollgang.

In den ersten beiden Zimmern drückt Margot Schnaitter leise die Türklinke runter, öffnet die Tür, beide Damen schlafen. Schon aus dem dritten Zimmer kommt eine laute Stimme. Die Patientin sitzt aufrecht im Bett und ruft Margot Schnaitter entgegen: "Mei, schee, dass du aa da bist. Ja mei, mia zwoa. Jetza machma no was! Zickezacke, zickezacke!" "Ja, machen wir noch was. Komm, wir gehn bieseln", entgegnet Margot Schnaitter, umarmt die alte Dame und führt sie ins Bad. Die bleibt immer wieder stehen, geht nur weiter, wenn Margot Schnaitter ihr Lieblingswort benützt: "Zickezacke!" Auf dem Rückweg von der Toilette drückt die Patientin ihr mehrere Bussis auf die Backe. Urin kam keiner, auch nicht nach drei Versuchen. Bevor sie sich ins Bett legt, zieht die Bewohnerin ihr Schlafanzugoberteil aus. Geduldig knöpft es Margot Schnaitter wieder zu, gleich auch noch ein zweites Mal.

Demenz ist für die Altenpflegerin eine schlimme, aber spannende Krankheit. Mit den anderen Mitarbeitern legt sie Biografien für die Bewohner an und findet fast immer Begründungen für bestimmte Verhaltensweisen. So kann sie dann besser darauf eingehen.

Die Altenpflegerin spricht alle so an, wie sie es wollen. Mit Vornamen und du, mit Nachnamen und Sie oder auch mal als Mausi. Nachts weiß sie, in welchem Zimmer die Bewohner nicht gestört werden möchten und sie lieber nur selten und sehr vorsichtig eintritt, und welche Bewohner gerne öfter aufstehen, wo sie also mehrfach kontrolliert, ob alles in Ordnung ist. Sie schätzt sich glücklich, dass sie auf dieser so genannten beschützenden Station nachts mehr Zeit als tagsüber hat. Manchmal bleiben ihr zwei Stunden am Stück, sodass sie Regale abstauben kann, die Wochenmedikation vorbereiten oder Ähnliches erledigen. Das sei auf anderen Stationen nicht möglich, wo einzelne Mitarbeiter viel mehr pflegerisch leisten müssen und höheren Dokumentationsaufwand haben.

Im nächsten Zimmer liegt eine Bewohnerin in Embryonalstellung, hat sich die Inkontinenzhose ausgezogen und das Laken entfernt. Margot Schnaitter muss sie neu wickeln und die Unterlage austauschen. Sie legt sie zurück aufs Kissen, deckt sie zu. Aus dem Zimmer nebenan tönt laut ein Radio. Die nachtaktive Bewohnerin hatte schon in der vorhergehenden Nacht dreimal mit Margot Schnaitter Brotzeit gemacht, ihr Geschichten von früher erzählt. Sie suche einen neuen Mann, aber es gäbe ja keine guten mehr. Die Altenpflegerin putzt die Toilette, dreht das Radio leiser, wünscht eine gute Nacht und verlässt das Zimmer.

Was ihr an ihrem Beruf am schwersten fällt? Sofort antwortet sie: "Dem Verfall zuzusehen. Ob man es glaubt oder nicht, aber diese alten Leute wachsen einem ans Herz. Und da würden wir sie dann am liebsten auch begleiten, bis sie sterben. Leider müssen viele vorher noch auf eine Pflegestation wechseln."

Sie weiß, dass sie sich die Geschichten nicht zu sehr zu Herzen nehmen sollte. Aber sie hat sich geschworen, aufzuhören, wenn sie kein Gefühl mehr aufbringen kann und bewundert Kollegen, die den Beruf ein Leben lang ausüben. "Aber noch hab ich genug Gefühl", meint sie und lacht, "noch kann ich Zuwendung geben." Und auch für diese Zuwendung bleibt nachts oft mehr Zeit - immer dann, wenn sie zwei Hände ergreift, die sich ihr aus einem Bett entgegenstrecken.
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