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Das Gift in der Gabe

Quelle: Rebecca Humann mit CC0-Lizenz: https://pixabay.com/de/apple-roter-apfel-biss-rot-obst-862934/

Dieser Artikel entstand im Sommer 2015, als München zu einem europäischen Knotenpunkt in der Flüchtlingspolitik geworden war.

Es gibt unbestritten eine große Anzahl an Initiativen, die entweder schon länger oder erst seit diesem Sommer anpacken, um Menschen, die sich auf der Flucht befinden, jenseits staatlicher Leistungen zu unterstützen. Studenten teilen täglich zuverlässig Informationen übers Internet, Mütter, Manager und Handwerker sortieren am Wochenende gemeinsam stundenlang Spenden, IT-Experten programmieren Apps mit Flüchtlingen, Familien nehmen andere Familien in ihre Wohnungen auf, Freunde packen spontan einen Hilfstransporter und fahren übers Wochenende nach Südserbien, um die dort eingerichteten Lager mit dem Notwendigsten zu unterstützen. Die Kreativität, Unermüdlichkeit und Offenheit so vieler Engagierter beweist, dass es für Jeden passende Nischen gibt, in der er oder sie sich gewinnbringend engagieren kann.


Aber wenn langjährige hauptamtliche Sozialarbeiter vom „Helfersyndrom" sprechen, unter dem manche der Freiwilligen litten, dann klingt an, dass hinter mancher Geste eine Haltung steckt, die nicht auf eine nachhaltige Stärkung der Flüchtenden ausgelegt ist. Die Haltung, mit der manche Spende ausgegeben wird, mit der Entscheidungen für Mündel getroffen werden, mit der Polizisten Flüchtlinge am Bahnhof kontrollieren, mit der Fußballturniere organisiert werden, knüpft Erwartungen an die Empfänger von Hilfsleistungen und degradiert Flüchtlinge zu Almosenempfängern, schutzbedürftigen Kindern, unablässigen Opfern, zum Bestandteil eines zu kontrollierenden Problems. Wo Flüchtlingen nicht zugestanden wird, eigene Bedürfnisse, Ideen und Lösungsstrategien zu haben und selbst umzusetzen, wird es gefährlich: Diese Gesten der Hilfe können sich in etwas verwandeln, das das künftige Zusammenleben mit Menschen, die man einst am Bahnhof mit Teddybären willkommen hieß, vergiften könnte - in Enttäuschung, Wut oder Abwendung. Und wer sich beständig degradiert fühlt, kann irgendwann mit Widerstand reagieren.


Von Schlafanzügen, Kinderlächeln und Nachmittagsschläfchen

„Let´s bring a smile to these poor people´s faces by donating them our wonderful gifts", meint die ehrenamtliche Organisatorin einer Spendenausgabe, bei der Schlafanzüge, Hygieneartikel und Schuhe an neu in München Angekommene ausgegeben werden. Menschen, die mehrere Wochen unterwegs waren und ihre ersten Nächte in einer überfüllten Unterkunft verbracht haben, sollen jetzt mit einem Lächeln Spenden in Empfang nehmen und den Spendern zeigen, dass sie dankbar sind. Auch hier leisten unglaublich viele hauptamtliche Sozialarbeiter und ehrenamtlich Tätige eine großartige Arbeit, die wichtige Güter innerhalb kürzester Zeit in möglichst gerechtem Maße den Menschen zukommen lässt, die sie brauchen. Die Gruppe der Menschen an der Ausgabe steht dabei der Gruppe der Flüchtlinge gegenüber. Beide Gruppen haben untereinander kaum Verbindungen und Gemeinsamkeiten, es gibt aber eine klare Trennlinie zwischen den Gruppen. Durch ihre Hilfsleistung und die Kleidungsstücke, die sie selbst gespendet haben, werden die Geber zu Stellvertretern einer Nation, die den Ärmsten der Armen Hilfe gewährt. Und die Menschen, die am Vortag mit dem Zug aus Budapest ankamen, zu einem Zugehörigen der Ärmsten der Armen - natürlich überspitzt formuliert.


Wer auf Geberseiten den Menschen aus dem Zug bei der Kleiderausgabe dann mit der gönnerhaften Geste des Almosengebers gegenübertritt, Witze auf Kosten der Neuangekommenen macht oder Fragen nach Schlafanzügen in anderen Größen als unangemessene Forderungen der Almosenempfänger empfindet, begibt sich bereits auf dünnes Eis. Anstatt eine Beziehung auf Augenhöhe herzustellen, bei der Geflüchtete selbst eine Wahl treffen können, bleibt man in der sicheren und machtvollen Rolle des Gebers, der sich der Situation jederzeit entziehen kann, sich ein allgemeines Urteil über die in einer Situation sehr kurz Getroffenen bildet und dieses Urteil weiterträgt. Wo Spenden nicht mit einem Lächeln empfangen werden, wo Mütter auf zwei Paar Schuhen für ihre Kinder beharren, anstatt mit einem Paar zufrieden zu sein, wo jugendliche Flüchtlinge ein Smartphone haben und lieber Fußballtrikots als warme Jacken wollen, kann sich der Geber schnell unverstanden fühlen. Und vielleicht ein ähnliches Urteil weitertragen wie das, das ich kürzlich im Regionalzug von einer Sitznachbarin hörte: „Mein Mann arbeitet direkt mit Flüchtlingen. Viele von denen erwarten, dass wir ihnen alles auf dem goldenen Tablett servieren. Die wollen doch nur einen Schlüssel für ihr neues Haus, und einen für ein schickes Auto."


Leider war es ausgerechnet unser Innenminister, der diese Aufteilung in die Gruppen Flüchtlinge versus Aufnahmenation auf den Punkt brachte - und durch die Platzierung der Aussage in einem anerkannten Medium dabei in den Köpfen vieler festsetzte:

„Bis zum Sommer waren die Flüchtlinge dankbar bei uns zu sein. Sie haben gefragt, wo ist die Polizei, wo ist das Bundesamt. Wo verteilt Ihr uns hin. Jetzt gibt es schon viele Flüchtlinge, die glauben, sie können sich selbst irgendwohin zuweisen. Sie gehen aus Einrichtungen raus, sie bestellen sich ein Taxi, haben erstaunlicherweise das Geld, um Hunderte von Kilometern durch Deutschland zu fahren. Sie streiken, weil ihnen die Unterkunft nicht gefällt, sie machen Ärger, weil ihnen das Essen nicht gefällt, sie prügeln in Asylbewerbereinrichtungen." „Die Flüchtlinge" sind „bei uns", sie fragen, sind dankbar und werden dann zu einem unkontrollierbaren Problem. „Noch", fügte er hinzu, seien diese Unkontrollierbaren und Undankbaren, „eine Minderheit". Aber wartet nur, was bald los sein wird, klingt hier an. Dass die den Flüchtlingen Helfenden gerne mal zur Kontrolle neigen, zeigen auch andere Beobachtungen. Die ehrenamtlichen Betreuer einer Flüchtlingsfußballmannschaft aus dem Kongo hielten bei einem Spaßturnier 2014 Gummibärchen und Pflaster für ihre Schützlinge bereit und forderten sie auf, die Gummibärchentütchen ordentlich zu entsorgen. Die Schützlinge waren stattliche Männer zwischen 25 und 35 Jahren aus Kriegsgebieten im Kongo, die als Turniersieger vom Platz gingen und sichtlich belustigt über ihre Betreuer waren. Als einem unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings aus Bangladesch angeboten wurde, seine schon beeindruckenden Programmierkenntnisse am Nachmittag nach der Schule bei einem IT-Fachmann zu vertiefen, reagierte sein Vormund ablehnend: „Nachmittags soll er bei uns zuhause bleiben. Da muss er sich ausruhen." Natürlich und für uns völlig unbestritten geht die größte Gefahr (etwa einer gesellschaftlichen Spaltung) von Menschen aus, die am rechten Rand mit Gewalt agieren, und von jenen, die mit Pegida-Slogans durch den Alltag laufen und sich den flüchtenden Menschen komplett verschließen. Das wird überall diskutiert. Wir aber möchten darauf hinweisen, dass auch Menschen, die den Flüchtenden fast enthusiastisch begegnen und ihre Arme öffnen, keine Garantie haben, dass daraus nur Gutes entsteht. Und um das ethnologisch zu betrachten, werden wir nicht über ein Helfersyndrom psychologisieren, sondern auf etwas blicken, das in der Begegnung zwischen Flüchtlingen und Helfern zentral ist: Die Gabe.

Marcel Mauss - Die Gabe

Wo Ethnologen etwas von Geben hören, denken sie meist an Marcel Mauss und das Stichwort „Die Gabe", einen der Klassiker ethnologischer Lektüre. In den 1920er Jahren veröffentlichte Mauss seine Theorie des Gabenaustauschs und leitete aus der Analyse ethnographischer Studien aus unter anderem Polynesien, Melanisien und Nordwestamerika allgemeine Schlussfolgerungen ab. Seine Theorie besagt, dass der Austausch von Gütern nicht nur ökonomische, sondern auch soziale, religiöse, juristische Dimensionen hat und geht davon aus, dass sich im Akt des Gebens die beteiligten Personen mit den beteiligten Gegenständen mischen, dass der Gabe also etwas des Gebers anhaftet, etwa eine Forderung.

Das vielleicht schillerndste Beispiel seiner Analysen ist dabei der Potlatsch, was heute als „Potluck" vor allem für US-amerikanische Gemeinschaftsessen bekannt ist, bei denen alle Teilnehmer etwas beitragen. In alten Ethnographien werden dabei Feste in Gesellschaften an der Nordwestküste der USA beschrieben, wo „Häuptlinge durch das Verschenken oder gar Vernichten einer Unmenge von Geschenken an oder vor Augen ihrer Untertanen ihren Status als vom Reichtum und damit Glück gesegneten Machtinhaber sichern mussten. Untertanen oder andere „Häuptlinge" hatten demnach die Pflicht, diese Geschenke anzunehmen, was wiederum der Herausforderung gleichkam, mit Geschenken zu reagieren.

Geben ohne Gift: Der Austausch

In einer Vielzahl anderer ethnographischer Beispiele geht Mauss darauf ein, dass der Akt des Gebens nie selbstlos ist, sondern eine Beziehung eröffnet, in der reagiert werden muss: Durch Gegengeschenke, Weitergabe oder ähnliches. Wer anders als vorgeschrieben reagiert, muss damit rechnen, ausgeschlossen zu werden, Ansehen und Würde zu verlieren. Und er folgert daraus für die Gesellschaft zur Zeit der Veröffentlichung seines Essays: „Die nicht erwiderte Gabe erniedrigt auch heute noch denjenigen, der sie angenommen hat, vor allem, wenn er sie ohne den Gedanken an eine Erwiderung annimmt" (S.123). Oder: „Geben heißt seine Überlegenheit beweisen, zeigen, dass man mehr ist und höher steht, magister ist; annehmen ohne zu erwidern oder mehr zurückzugeben heißt sich unterordnen, Gefolge und Knecht werden, tiefer sinken, minister werden. (S. 133)


Überträgt man nach den oben gebrachten Beispielen diese Thesen auf die Situation zwischen Flüchtlingen und ihren Helfern, dann zaubert die Kleiderausgabe nicht unbedingt ein Lächeln in das Gesicht, sondern lässt mehr Stress entstehen und etabliert eine Rangordnung. Menschen, die ihr Schicksal aktiv in die Hand genommen haben und sich auf den Weg in ein anderes Leben gemacht haben, eine andere Sprache lernen und sich auf eine andere Lebensweise einlassen, werden hier erstmal einer Gruppe von Empfängern zugeordnet, die kaum die Chance hat, etwas zu erwidern. Und die Kleiderausgabe ist nur einer dieser vielen Momente, die Flüchtlinge erleben: Daran reihen sich Essensausgaben, Zuweisung von Wohnraum, von Einrichtungsgegenständen, Kinderspielzeug, Schultaschen, Deutschbüchern. Und diese Momente prägen die Geschichte der einzelnen Menschen, die sie in sich tragen, wenn sie woanders auftreten und Rechte einfordern, die ihnen erlauben, wieder einen Status zu haben, von dem aus sie selbst ihr Leben steuern können, etwa eine Arbeitsgenehmigung, einen Platz in der Schule.


Wir hoffen, damit einen bewussten Umgang mit dem eigenen Engagement anzustoßen, weil wir es wichtig finden, sich die eigene Haltung anzusehen und die Situationen, in die man sich begibt, zu reflektieren: Kann ich eine Geste der Dankbarkeit erkennen? Kann ich meinem Gegenüber erlauben, die Beziehung, die ich durch eine Spende eröffnet habe, auch zu erwidern? Indem ich mich von der Mutter, deren Kinder ich in Deutsch unterrichte, bekochen lasse, indem ich versuche, von den Fähigkeiten des jugendlichen Programmierers auch etwas zu lernen? Will ich mein Gegenüber verstehen und mit ihm/ihr gemeinsam eine positive Veränderung anstoßen, etwa auch in dem ich ihn/sie ehrlich auf mögliche Schwierigkeiten hinweise? Was bedeutet Solidarität für mich? Wenn ich meinen kaputten Drucker spende, wenn ich einmal im Monat Deutschunterricht gebe? Aber geht es mir zu weit, wenn jemand in das Sozialsystem aufgenommen wird, in das ich als Vertreter der Deutschen einzahle?


Wer beständig degradiert wird, muss irgendwann mit Widerstand reagieren, so eine These in der Einleitung. Dies soll nicht missverstanden werden als notwendige Verknüpfung im Sinne einer Kausalität: Nicht jeder, der einmal eine Spende entgegengenommen hat, wird irgendwann mit Gewalt gegen Menschen in der Fußgängerzone reagieren. Aber wer sich häufig nicht als Mensch wahrgenommen fühlt, verhält sich vielleicht irgendwann unmenschlich gegenüber anderen Bewohnern in der Einrichtung, reagiert eher negativ auf Anweisungen eines Vorgesetzten, widersetzt sich aus Freude am Widersetzen gegen irgendwelche Vorschriften.


Und auch hier bietet Marcel Mauss einen Ausweg an, den ich so wiedergeben will:

„Die bretonischen Chroniques d`Arthur erzählen, wie König Arthur mit Hilfe eines Zimmermanns aus Cornouailles das Wunderwerk seines Hofes erfand, die Tafelrunde, an der die Ritter sich nicht mehr schlugen. [...] Wo immer Arthur seinen Tisch hintrug, blieb seine adlige Gesellschaft unbesiegbar. So tun es auch heute noch die starken, glücklichen und guten Nationen. Völker, Klassen, Familien, Individuen, können reich werden, doch sie können nur dann glücklich sein, wenn sie es lernen, sich wie die Ritter rund um den gemeinsamen Reichtum zu scharen. Man braucht nicht weit zu suchen, um das Gute und das Glück zu finden. Es liegt im erzwungenen Frieden, im Rhythmus gemeinsamer und privater Arbeit, im angehäuften und wieder verteilten Reichtum, in gegenseitiger Achtung und Großzügigkeit, die durch Erziehung lernbar sind."


„Durch Untersuchungen dieser Art können wir die verschiedenen ästhetischen, moralischen, religiösen und ökonomischen Triebfedern sowie die materiellen und demographischen Faktoren aufspüren und abschätzen, deren Gesamtheit die Basis der Gesellschaft ist und das Gemeinschaftsleben konstituiert und deren bewußte Lenkung die höchste Kunst darstellt, Politik im sokratischen Sinn des Wortes."


Quelle: Mauss, Marcel 1989: Soziologie und Anthropologie 2. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main.

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