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Feature

Fairplay auf Augenhöhe


„Inklusion“ ist in aller Munde, die Bestrebungen zur Gleichstellung von Menschen mit und ohne Behinderung so zahlreich und vielschichtig wie die Sorgen und Probleme. In einem kleinen Ort in der Fränkischen Alb wird seit einigen Jahren nicht mehr viel überlegt, sondern beherzt zugegriffen. Und getreten.


Freitagabend, Sommer, Landidyll. Der Regen hat die Luft reingewaschen, die Felder duften nach Heu, die Wiesen sind frisch gemäht wie auch der Fußballrasen. Während drumherum die Berge der Frankenalb in der Abendsonne glühen, erhitzen sich am Spielfeldrand die Gemüter. Während die Vögel zwitschern, pfeift der Schiedsrichter auf dem einen, der Coach auf dem anderen Grün, kicken hier zwei Jugendmannschaften im Wettkampf, während dort eine Truppe einträchtig miteinander trainiert. Dribbeln um Stangen und Schuss aufs Tor, Ballabgabe und Pass, und wer den Gegner ausschwanzt, hat was gut. Ältere Jungs hängen am Zaun ab. Eine ganz alltägliche Szene, wie sie sich an diesem Abend im Juni beim Hersbrucker SV Altensittenbach und wahrscheinlich überall auf der Welt gleichzeitig abspielt. Und dabei doch so ungewöhnlich ist.

Corin hinkt ein bisschen, Markus tritt den Ball und geht steifbeinig hinterher. Nafiye ist 46 und Emil 14 Jahre alt, dafür hat der Papa André dabei. Michaela und Philipp sind keine Gegner, sondern ein Paar, Valentin, Konstantin und Karin hingegen gleich eine ganze Familie – nämlich die von Giri. Giri steht in der Mitte und am Rand, richtet Hütchen auf und Spieler. Giri ist der Dreh- und Angelpunkt. Für die Menschen, die er in den Mittelpunkt stellt, nach dem Motto „Ein faires Miteinander auf Augenhöhe – jeder nach seinen Fähigkeiten und Möglichkeiten“.

Giri heißt eigentlich Anargiros Tsopouridis, ist 59 und Sozialarbeiter bei der Lebenshilfe Nürnberger Land e. V. Giri weiß viel über Ausgrenzung und Teilhabe, darüber, wie lang der Weg bis heute war und wie lang er noch sein wird, bis es „Inklusion nicht mehr gibt, weil alles normal ist.“ Giri weiß Bescheid über Recht und Politik, aber auch über die Allgemeinheit. Die Gesellschaft, die „Menschen mit Behinderung nicht nur respektieren, sondern vor allem auch akzeptieren muss.“ Und darüber, wie schwierig das ist, wenn man nicht kennt, was man da akzeptieren soll. Deswegen hat Giri mit dem „Treffpunkt Inklusion“ vor vier Jahren eine der ersten inklusiven Fußballmannschaften der Region ins Leben gerufen.

„Inklusiv“, sagt André, „da denken die Menschen sofort an körperliche Behinderung, damit können die was anfangen. Mit Down-Syndrom auch. Aber mit allem, was man nicht sehen kann, wird es schwierig. Noch schwieriger, als es ohnehin schon ist.“ André ist 48, IT-ler und „immer im Doppelpack“ mit Sohn Emil. Emil hat das Bohring-Opitz- oder C-Syndrom, ein seltener Gendefekt, der schwere geistige Behinderung zur Folge hat, oft einen frühen Tod im Kindesalter. Emil weiß Bescheid über coole Sonnenbrillen, Laseraugen und Zahnspangen, André über Schulformen und Kindergärten, über inklusionsunfähige Institutionen wie die Kirche und darüber, mit wie viel unerträglicher Sorge ein Elterndasein einhergeht, wenn das Kind schlicht nicht alleine für sich sorgen kann, wenn es älter wird, aber nicht erwachsener, wenn es für immer Betreuung braucht. Auch dann, wenn die Eltern längst selbst betreut werden müssen.

„Das ist die größte Sorge aller Eltern gehandicapter Menschen“, sagt Giri: „Was passiert mit meinem Kind, wenn ich mich nicht mehr kümmern kann?“ Deswegen, sagt der Sozialarbeiter, ist es so wichtig, den Menschen Selbstständigkeit zu ermöglichen, sie zu befähigen, Verantwortung zu übernehmen, für sich zu sorgen, so weit es geht. „Bedingungen zu schaffen für echte Teilhabe im Rahmen der Möglichkeiten“, sagt Giri, und dass das nicht geht, wenn in einer inklusiven Klasse ein Lehrer für 25 Kinder da ist, denn „da bleibt irgendwer auf der Strecke – das Kind mit Behinderung oder das ohne.“ Um die Situation zu verstehen, muss man sie kennenlernen. Muss die Menschen kennenlernen. Aber wo soll das stattfinden?

„Menschen mit Behinderung bleiben mehr oder weniger die meiste Zeit unter sich“, weiß Corin Winter. „Und mal im Ernst: Hast du Bock, auch deine Freizeit mit den Leuten zu verbringen, mit denen du schon den ganzen Tag auf Arbeit hockst?“ Corin (32), der nach einer Hirnhautentzündung halbseitig gelähmt ist, im ambulant betreuten Wohnen lebt und in der Werkstatt als Schreiner arbeitet, hat das nicht. Michaela (29) auch nicht, die im Förderzentrum Mathe nicht bewältigen konnte, den Job im Housekeeping sehr wohl und erst recht das Zusammenleben mit Freund Philipp (30), der sagt „Jeder hier ist anders, das ist cool“, und „wenn man sich gut versteht, dann ist es doch egal, wie der andere drauf ist.“ Oder auf einem Auge blind, wie Patrick. Oder mehrfach körperlich und geistig schwerstbehindert wie Nafiye. Oder Autist wie Markus, der, erzählt Giri, vor wenigen Jahren noch den ganzen Tag im Wohnheim stand und sich wiegte, vor und zurück, vor und zurück, und jetzt schau ihn dir an! „Die Leute haben gesagt: Fußball? Das kann der niemals.“

Er kann. So wie Giri die Truppe ins Leben rufen konnte. Die gewissermaßen mehrdimensional inklusiv ist. Die Behinderte und Nichtbehinderte zusammenbringt, Kinder und Alte, Familien und Einzelkämpfer, Spieler und Zaungäste, Vereinsvorstand – und ja, sogar den Stammtisch, erzählt Giri und zeigt lachend auf den Klub der alten Herren, die zusammensitzen. Nein, sagt er, am Anfang war das nicht leicht. Gar nicht. Behinderte hat es hier, im SV 1928 Altensittenbach e. V., noch nie gegeben, und das hätte auch so bleiben können. Aber Giri, der brennt für seine Idee, der will, dass Menschen auf Augenhöhe miteinander funktionieren, Begegnungen ermöglichen und Gesundheit fördern, weil nur ein körperlich fitter Mensch den ganzen Anforderungen gewachsen ist, die so ein Leben mit sich bringt. Er schafft erst Transparenz, dann den Vorstand auf seine Seite, dann die Mitglieder, und schließlich auch die Zweifler. Später den bayerischen Sportverband.

„Sport hat eine unglaublich starke integrierende Wirkung“, sagt André, der mit Emil kommt, weil dem das guttut. Weil er hier kämpfen kann, aber nicht muss, weil er beiträgt, so viel er will, weil er sich nicht dran stört, dass die meisten in der Mannschaft so viel älter sind, sondern das ziemlich cool findet. Weil das für ihn wie für Corin, Michaela oder Philipp die einzige Möglichkeit ist, Freunde zu treffen und mit ihnen Sport zu machen, und dabei aber auch mit Giris Söhnen Konstantin (9) und Valentin (7) beisammen zu sein und deren Mama. Karin Tsopouridis ist Heilpädagogin und passt auf, dass niemand sich verletzt oder übernimmt. Ein Ehrenamt, so wie alles hier.

Deshalb, oder zumindest: auch darum, sagt Giri, der 2017 das deutschlandweit bekannte Inklusions- und Begegnungsprojekt „GEWO-Challenge“ der Lebenshilfe initiiert hat, gibt es wenige Vereine, die sich an das Thema herantrauen. Weil man Verantwortung übernehmen muss und Ressourcen bereitstellen. Sich rantrauen. Mut aufbringen für etwas, das so normal sein sollte. Könnte. „Menschen, die nicht körperlich aktiv sind, haben im Schnitt fünf bis zehn Jahre weniger Lebenserwartung“, sagt Giri. „Da muss man doch fragen: Ist es das nicht wert?“ Ein komplettes, inklusives Sportangebot schwebt ihm deswegen vor. Fußball gibt es schon, Outdoor-Training auch, eine Basketballmannschaft, die von Corin Winter trainiert wird.

Was braucht es denn schon? Platz. Wenige Mittel. Viel Begeisterung. Was bekommt man? Menschen wie Corins Wohngruppen-Kumpel Tino Gerhardt (29), der so unglücklich war, weil er nirgends mitmachen konnte, und heute als Inklusionsfußballtrainer aktiv ist. Menschen wie Nafiye, die kaum sprechen und schlecht gehen, wohl aber Spielregeln befolgen kann. Menschen wie Corin, der sagt: „In einer Welt der Gesunden wäre ich immer der Schwächste. Aber hier kann ich etwas beitragen und schaffen.“ Menschen wie André, die sagen: „Ich muss immer dabei sein, weil Emil das nicht alleine packt“, und dann sagt man zu ihm: „Du, der Emil spielt seit fast einer Stunde ganz alleine ohne dich, weil du sitzt ja hier bei mir.“ Und dann schauen sie verwundert und haben in diesem kleinen Moment vielleicht etwas Großes gelernt.