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Wissen, wo die Dinge herkommen

„Ok, Katharina. Wie schaut’s aus? Wir sind ja aus einem bestimmten Grund hier. Ziehst du’s durch?“ Ich hatte gehofft, sie vergessen, warum wir hier sind. Vergessen, dass ich hier bin. Acht Augenpaare schauen mich an, in zweien ist der Blick erloschen. „Fühlt sich grade nicht so an“, sage ich. „Aber ich versuch’s.“ Und dann knie ich auf dem Boden, in der einen Hand ein scharfes Messer, in der anderen Fell. „Das packst du hier, hältst fest und setzt den ersten Schnitt“, sagt Jörg. Ich folge.


Fleisch ist ein Thema, das in meiner Familie seit jeher stattfindet. Doch während der Urgroßvater die Karpfen noch in der Badewanne zwischengelagert, der Großvater die Kaninchen selbst gezüchtet, der Vater auf dem Bauernhof geschlachtet hat, kenne ich Fleisch nur in zwei Zuständen: lebendig – oder zubereitet. Das Dazwischen fehlt. Fleisch ist Schnitzel, ist Filet, ist aufgeräumt. Ist sauber. Nichts erinnert mehr ans Lebewesen. Fleisch ist überall verfügbar: Massenware ohne Wert. Die guten ins Kröpfchen, die schlechten ins Töpfchen. Das ist ein Problem. „Früher war Fleisch etwas Besonderes. Wenn geschlachtet wurde, hat man alles verwertet. Das findest du ja heutzutage kaum“, hat Johannes Wurm gesagt, Forstbetriebsleiter der Bayerischen Staatsforsten in Nürnberg und damit verantwortlich für 24.000 Hektar Wald, alles, was darin lebt sowie 15 Berufsförster und -jäger. Fünf von ihnen stehen im Kreis um mich herum, haben Stirn- und Taschenlampen, Jagdkleidung. Gewehre. Erwartungen. Es ist stockdunkel und tropisch heiß, der Waldboden dampft, der Himmel spuckt Sternschnuppen. „Die Menschen haben keinen Bezug mehr zum Lebewesen“, hat Johannes Wurm gesagt. „Wie ist das bei dir?“ Darüber habe ich viel nachgedacht, in den vergangenen Wochen noch mehr. Seitdem ich gesagt hatte: „Ich will wissen, wie das ist. Und ich will wissen, ob ich es aushalte.“ Das Jagen, das Töten, vor allem das „Aufbrechen“, wie die Jägersprache sagt zum Öffnen und Ausnehmen eines Tieres. Ein Tier, das schön ist und stolz, das man berühren möchte und „Bambi“ nennen.

„Hoffentlich erlegt ihr ein Wildschwein“, hatte ich gesagt, „vielleicht tut mir das weniger leid.“ Ob ich mir das gut überlegt habe, bin ich im Vorfeld oft gefragt worden. Nein, habe ich gesagt, wie gut kann man sich etwas überlegen, das man gar nicht kennt? Aber dass ich wissen möchte, wo die Dinge herkommen, wie sie geschehen, sich anfühlen, das hatte ich überlegt. Dass das dazugehören sollte, wenn man Fleisch essen möchte, genauso wie Menschen wissen sollen, wo Pommes wachsen und wie Sauerkraut blüht, wie Marmelade bestäubt wird und wo Sushi schwimmt. Und wenn man Schnitzel will und tote Tiere nicht aushält und rohes Fleisch nicht anfassen kann, dass dann irgendwas falsch läuft. Und wenn Menschen um Stadtgänse weinen, um die Martinsgans aber nicht, dann auch. Aber woher soll man es wissen? Bei Metzgern und im Supermarkt hat Fleisch eine Form und Wurst ein Bärchengesicht, kommt fertig paniert oder gleich aus der Tube. Leberkäse und Kartoffelbrei sind irgendwie das Gleiche, schmeckt halt anders. Nur dass eines der beiden mal Augen hatte und eine Milz, Lungen und ein Herz, das vergessen wir. Ich halte all das in der Hand. Johannes Wurm und ich waren „ansitzen“. Zwei Stunden reglos auf dem Hochsitz im Wald, der lebt und dämmert und uns leise auslacht. Selbst wenn ein Tier käme, würde ich es nicht erkennen. Den Schuss in der Ferne sehr wohl: Es gab einen Jagderfolg. Dann noch einen zweiten.

Der Jagderfolg liegt auf dem Waldboden. Kein Wildschwein. „Spießer“, sagen die Jäger: Zwei Geweihhörner thronen auf der Stirn des Tieres, auf der des anderen sogar drei. Außergewöhnlich. Wie viele solcher Tiere im Reichswald leben, ist unbekannt, die Förster sehen nur den sogenannten „Verbiss“. Circa 1340 von ihnen werden jedes Jahr „entnommen“, die Entnahme folgt strengsten Gesetzen. Das ist nicht grausam, sondern notwendig: Die Natur muss im Gleichgewicht gehalten werden. Gäbe es noch Wölfe, Bären, Löwen, erledigten die das. Aus vierbeinigen Jägern sind zweibeinige geworden, fünf von ihnen stehen um mich. Ich soll das jetzt machen. Den Bock aufbrechen. „Ich weiß nicht“, sage ich. Was passieren wird. Ob ich weinen muss oder mich übergeben, wie ein Körper reagiert, der es kaum schafft, ein Suppenhuhn zu verarbeiten. Ich bin gestresst: All diese Männer sind nur meinetwegen hier, haben Stunden ihrer Freizeit geopfert, einen der wenigen lauen Sommerabende. Weil ich etwas erfahren, spüren will. Wie peinlich. Julian sagt: Wir haben zwei Tiere. Du kannst einmal zuschauen und dann entscheiden. „Ok“ sage ich, und Julian beginnt mit der Arbeit. Konzentriert, respektvoll, kraftvoll. Alle Bilder, die man kennt aus Büchern, Filmen, bekommen plötzlich Geräusche, bekommen Wärme. Geruch. Und ich ein scharfes Messer in die Hand. „Ich helfe dir“, sagt Jörg und leitet mich an.

Mit den Füßen auf die Läufe, das Tier aufspreizen. Das Geschlecht packen und schneiden. Zwei Finger in das geöffnete Tier, eine Schiene bilden, mit dem Messer daran entlanggleiten. Nach oben arbeiten, mit Kraft, mit Vorsicht. Das Fell auftrennen, die Haut, die Sehnen, das Fleisch. Den Brustkorb öffnen, mit einer winzigen Säge die Knochen zerteilen. Schwitzen. Nicht aufhören, keine Pause machen. Nicht nachdenken. Alles ist Dampf. Blut. Jörg sagt: „Hier gerade in Richtung Kiefer schneiden und nach unten arbeiten.“ – „Es tut mir leid“, sage ich. Den Kehlkopf freilegen und die Gurgel, oben packen, festhalten, anreißen, gleichzeitig schneiden. Herz, Lunge, Leber, Milz, Niere. Becken aufsägen. Haken durch die Achillessehne, aufhängen am Hochsitz. Gurgel festhalten, Zwerchfell lösen. Nicht schnell genug zurücktreten. Überall Eingeweide. Ein Festmahl für den Wald, später.

Später sagt Johannes, dass es manchmal vorkommt, dass ein verletztes Tier mit dem Messer in der Hand erlegt werden muss statt aus der Ferne mit dem Gewehr – bei Verkehrsunfällen zum Beispiel. Dass das schlimm ist, jedes Mal. Es soll schnell gehen und nicht leiden. Tiertransporte sind in Deutschland theoretisch auf acht Stunden beschränkt, faktisch unbegrenzt. Später bringen die Männer das Wild ins Forsthaus. Dokumentieren Alter, Gewicht, Zustand der Tiere. Aufhängen, waschen, Kühlraum, abhängen. Eine Woche. Später zerteilen, weiterverarbeiten. Der ausgelöste Rücken meines Rehbocks wird 45,00 €/kg kosten, die Schulter 16 €/kg. Wildgrillbratwürste 16,50 €/kg. Später kommt mein Gefühl. Und die Frage, ob ich hätte töten können.