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Das Mädchen mit den Nagelscherenhänden

Corona ganz neu, niemand weiß, wie das jetzt gehen soll mit diesen Interviews. Am besten draußen. Dass es nochmal so kalt werden würde, damit konnte niemand rechnen. Auch das Mädchen nicht, das da auf der Parkbank sitzt. Die Hose zu dünn, die Jacke zu offen, der Schal zu lose, die blonden Haare tanzen im eisigen Wind – eine junge Frau, die friert. Alles ganz normal. Und dann auch wieder nicht.

Offenbart Simone, streicht sich die ausgebüxten Strähnen aus dem Gesicht. Offenbart, warum sie nicht wenigstens Handschuhe trägt. Warum 40 000 Menschen auf YouTube sehen wollen, was die Studentin über „My Nail Care Routine“ zu sagen hat, und fast 15 000 auf Instagram, wie Simone Eis isst und Pizza, Sekt trinkt, die Katze streichelt, warum Menschen in China die Studentin aus Reichelsdorf bei Nürnberg kennen, aus Thailand, aus den Arabischen Emiraten, aus Portugal – und niemand in der Heimat. Simone ist ein Unikat, eigentlich: zehn Unikate, jedes ungefähr 20 schwarzsilberne Zentimeter lang. Ekelhaft, sagen manche, heimlich. Ganz normal, sagen viele. Aus Versehen passiert, sagt Simone, streicht sich die Haare aus dem Gesicht, die Nägel klackern, und erzählt, wie das passiert ist, dass die Fingernägel der 19-jährigen Studentin seit 2014 vor sich hin wachsen, seitdem der Teenager den ersten roten Lack zum Geburtstag geschenkt bekam und kurz darauf mal Langeweile. Schöne rote Nägel wie die Stars, warum eigentlich nicht, und „je länger die Nägel, desto mehr Platz ist zum Malen“ und „dann wurde das zum Selbstläufer“, die selbstgesetzten Fristen flugs verschoben, nach einem Jahr und zehn Zentimetern war klar: Abschneiden? Wieso sollte ich?

Simone lacht, Jessica auch, „für uns ist das voll normal“, sagt die Freundin, die „wie die Mitschüler quasi mitgewachsen“ und beim Gespräch dabei ist. Rückendeckung. Man weiß ja nie. Im Internet, sagt Simone, sind die Leute offen böse, beleidigend, zutiefst verletzend. Aber auch: begeistert, empathisch, gleichgesinnt auf der ganzen Welt. Man kann es lesen. „Im realen Leben habe ich noch nie offen Kritik gehört, die Leute lästern hintenrum“, sagt Simone, die dieser Realität wegen lieber ihren Nachnamen für sich behalten möchte, und erzählt, wie sie versucht, sich vor Blicken zu schützen, wie sie merkt, dass die Leute reden, heimlich Fotos machen. Wie sie sagen will: Fragt mich doch einfach, sprecht mich an! Und sich nicht traut. Simone ist schüchtern und leise, hatte sich vor der eigenen Courage erschreckt mit der Wahl des Jurastudiums im letzten Jahr, das geht dann doch nicht irgendwie.

Geht denn nicht ohnehin ziemlich vieles nicht? fragt man, und die langen Nägel fliegen ins Haar, Spaghettiklimpern, alles geht! Basketball mit dem Handrücken, Laptoptippen mit den Knöcheln, Bowling zweihändig, kein Problem in der Fahrschule, nach fünf Stunden Deutsch-Abi schmerzten die Hände, aber tun sie das nicht eh? Klettergarten geht nicht, das ist schade. Schwimmen geht nicht, der Wasserdruck zieht an den Nägeln. Konzert, Disco, Menschenmassen, auch nicht gut. Wenn ein Nagel abbricht, zertrampelt wird, verlorengeht – nicht auszudenken! Eine Katastrophe für die junge Frau, die sich nur zögerlich hervortraut, die leichthin erzählt von kreativem Design und stundenlanger Pflege, von Ölen und Lacken und Härtern, von der Zwei-Stunden-samstags-Routine, und mittendrin flüchtig über den Tod des Vaters 2014 streichelt. Schnell durchs Haar flattern und zurück zu Videos und Instagram und der Welt der Gleichgesinnten und wie schlimm es war, als der erste Nagel brach, wie groß die Verzweiflung, wie unterstützend die Freunde.

Mit Fieberglas ließ sich der Nagel retten. Die Unterseite zeigen? Lieber nicht, sagt Simone und dass sie sich bewusst sei, wie hässlich es dort aussehe. Schämt sich. „An schlechten Tagen verstecke ich meine Hände“, sagt Simone, versteckt die Hände im Bus unterm Schal, auch im Sommer „ergibt es sich, dass ich immer was dabei habe zum Verstecken“, und man kann nie wissen, wann die Scham plötzlich von hinten anspringt, ausnutzt, wenn Simone alleine ist, die lachenden, gackernden, sichernden Freundinnen nicht dabei sind. Die Jungs sagen: Hübsches Mädel, aber hässliche Nägel, sagen, „wenn du meine Freundin wärst, dann hättest du sowas nicht.“ Es könnte leichter gehen im Leben, könnte man meinen. Aber da regt sich Widerstand in der jungen Frau, man müsse das akzeptieren, dieses Anderssein, „die Leute sollen ihren Kindern beibringen, dass es ok ist.“ Sie tut ja niemandem weh. Einmal, da habe sie versucht, auch die Fußnägel wachsen zu lassen.

Aber „das schmerzt beim Laufen, die Schuhe passen nicht – und assoziiert viel mehr Ungepflegtheit.“ Und ungepflegt ist nicht. Einmal im Monat kümmert sich Simone um die Nägel, drei bis vier Stunden, „danach bin ich völlig fertig und habe Rückenschmerzen“, gesteht sie, und dass das die Momente sind, in denen sie denkt: Das reicht jetzt! Und dann doch nicht zur Schere greift. Nicht abschneidet, was Zeit und Geld kostet und Schmerz und Behinderung bringt, was Menschen gleichsam fasziniert und ekelt. „Das kann niemand verstehen“, sagt Simone. „Ich manchmal auch nicht.“

Dabei weiß sie es selbst. Die Fingernägel, diese über 20 Zentimeter gebogenen Hornkrallen, abzuschneiden, würde bedeuten: die eigene Identität zu beschneiden. Die zahlreichen Kontakte auf der ganzen Welt, die sie pflegt wie ihre Nägel, mit denen die junge Frau längst mehr teilt als diese sehr spezielle Vorliebe, mit der sie deutschlandweit alleine zu sein scheint, und mit denen Simone nicht nur ihren Körper, sondern vor allem auch ihr Selbstverständnis entwickelt hat. „Das muss man doch respektieren!“, sagt sie, und die Zähne klappern mit den Nägeln um die Wette. Dass Menschen nichts anfangen können mit dieser Passion, das könne sie ja auch akzeptieren. Ein nächstes Ziel ist dennoch gesetzt, „Mama sagt, es reicht jetzt dann doch mal.“ Im Oktober beginnt mit dem einem neuen Studium ein neuer Lebensabschnitt, „den würde ich gerne vorurteilsfrei antreten.“ Und lacht. Die Freundin auch. Fahrrad. Die Nägel klackern im Wind.

https://www.instagram.com/simone_christina_/