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Mehr Qual als Wahl - Nachtleben kaum barrierefrei

„Wie jeder andere Jugendliche auch“ hat Tobias Piller mit 16 Jahren begonnen, an den Wochenenden auszugehen. Wie jeder andere Jugendliche auch hat er Lust auf alte Freunde treffen und neue kennenlernen, auf Musik, auf Gespräche, auf das, was halt alles so dazugehört. Nur überlegt sich Tobias Piller vorher dreimal und ganz genau, wohin ihn der abendliche Weg so führen könnte. Wie wohl die wenigsten anderen Jugendlichen. Denn „bevor man vom Reinkommen in einen Laden schon fix und fertig ist, lässt man’s lieber gleich.“ 

Tobias Piller sitzt im Rollstuhl. Seitdem sein Gehirn während der Geburt eine kurzzeitige Unterversorgung mit Sauerstoff erlitt, lebt Tobias Piller mit „spastischer Tetraparese“, also eine Beeinträchtigung vier Extremitäten. „Wenn ich mich seitlich festhalten kann, sind ein paar Schritte drin. Mehr nicht“, sagt der 21-Jährige, der mit seiner Freundin in der gemeinsamen Wohnung bei Hersbruck lebt und als Kaufmann für Bürokommunikation beim Verein für Menschen mit Körperbehinderung arbeitet. Vom Nachtleben erzählt der junge Mann mit gemischten Gefühlen. Konzerte und Festivals, die meistens „super klappen“, und die vielen Besuche in der Rockfabrik – weil er „eh keinen Bock auf was anderes hat“, versichert er, sei die Diskothek im Klingenhof die Lieblingsanlaufstätte. Weil innen vieles ebenerdig, sagt Tobias Piller, aber schon auch blöd, dass dann die Bars alle erhöht liegen. Muss man erstmal auf sich aufmerksam machen. 

Tatsächlich ist die Rockfabrik eine der wenigen Diskotheken, die insofern barrierefrei sind, als sie beispielsweise über eine behindertengerechte Toilette verfügen. Die meisten anderen können sich eine solche Einrichtung nicht leisten, sei es aus finanziellen oder baulichen Gründen. „Bezuschussungen gibt es nicht“, erklärt Norbert Roth, Behindertenbeauftragter der Stadt Nürnberg beim Sozialamt. „Viele Rollstuhlfahrer orientieren sich dann eben an dem, was möglich ist.“ Freilich, sagt Tobias Piller, müsse man sich halt zu helfen wissen. Mit Urin-Beuteln zum Beispiel. Nach „mit Vorsicht zu genießenden Schätzungen“, so Norbert Roth, dürfte es in Nürnberg in der Altersklasse 18 bis unter 45 Jahren circa 500 „außergewöhnlich Gehbehinderte“ geben, junge Menschen, die raus wollen, leben, feiern – und sich „lieber zweimal überlegen, ob’s den Aufwand wirklich wert ist“ wie Tobias Piller, der eingesteht, dass er sich „sicher mehr Läden anschauen würde, wenn das alles irgendwie besser organisiert wäre.“ 

Die Organisation fängt an am Eingang. „Wir sind immer bemüht, zu helfen“, versichern die Diskothekenbetreiber der Stadt, und Tobias Pillers Erfahrungen bestätigen das. Rampen, Hintereingänge, Aufzüge oder halt die Türsteher, die über die Kellertreppen helfen. Aber drinnen fangen die Probleme fast erst an, wie das der Toiletten, die hohen Theken, verwinkelte Räume mit vielen Zwischenstufen oder einfach der übliche Betrieb, der mit sich bringt, dass es eben voll ist, eng. „Ich würde mir wünschen, dass es ein Ziel der Stadt wäre, auch die Gastronomie barrierefreier zu gestalten“, gesteht Tobias Piller. „Die Integration behinderter Menschen ist eine besondere Aufgabe des Staates und damit auch der Kommune, der Stadt Nürnberg. Das ergibt sich aus dem Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes (GG - Art. 20 Abs. 1), aus dem Diskriminierungsverbot (Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG)“, ist unter anderem auf der Seite des Sozialamtes zu lesen. „Das Thema Diskotheken wird bei uns eher nur am Rande behandelt“, so Michael Mertel (28) vom Behindertenrat der Stadt Nürnberg. 

„Wichtigere Dinge“ gebe es zu besprechen, Schulen, Wohnen, Finanzen, die Prioritäten bei geschützt rund 60 000 Schwerbehinderten in Nürnberg liegen vorrangig anders als auf dem Nachtleben. Aber zu den Themen, die im Behindertenrat diskutiert werden, gehören, so Mertel, der von Geburt an mit der Neurahlrohrfehlbildung „Spina bifida“ im Rollstuhl lebt, auch „Freizeit und Kultur“. Und damit doch auch das Nachtleben? Dass da noch viel zu tun ist, zeigt sich schon allein durch die Reaktionen der anderen Gäste, wenn Tobias Piller mit seiner Freunden in der Diskothek auftritt. „Meine Freundin sagt immer ‚Du und dein Fanclub!‘“, lacht der junge Mann. Weil sich „alle immer so freuen, wenn ich auftauche, und mir ständig was ausgeben.“ Weil sein Anblick im Rollstuhl, mutmaßt Tobias Piller, so ungewöhnlich ist. Wie schade, eigentlich.