Zunehmender Platzmangel, veraltete Kanalisation, Veränderungen des Stadtklimas - es gibt zahlreiche Probleme in Berlin. Viele davon könnten durch die Nutzung freier Dachflächen gelöst werden - Visionäre planen bereits die Zukunft von oben
Auf dem Dach, über der Stadt. Zwischen rot geziegelten Schornsteinen und Fernsehantennen wartet eine karge Landschaft aus leeren, grauen Flächen. Am Horizont der Gebäude die grüne Oase des Tempelhofer Feldes. Dort, auf dem alten Flughafengebäude soll bis 2020 eine Dachterrasse errichtet werden - öffentlich zugänglich. Dies wurde eben erst von Bundesbauministerin Barbara Hendricks und Stadtentwicklungssenatorin Katrin Lompscher verkündet.
Schätzungen zufolge liegen etwa 40 Millionen Quadratmeter von Berlins Dachflächen brach, rund 5.000 Fußballfelder. Die Sprecherin der Berliner Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen nennt die Zukunft der Dächer im dicht bebauten urbanen Raum „einen wichtigen Aspekt um Flächenkonkurrenzen in der wachsenden Stadt zu begegnen". In jüngster Zeit wurde die Hauptstadt immer häufiger Opfer starker Regenfälle, die Kanalisation scheint überfordert. Ebenso verändert sich das Klima der Stadt zunehmend. Doch wie könnten wir unsere Dächer nutzen, um diese Probleme zu lösen?
Zum Beispiel könnten zugunsten des Stadtklimas Dächer begrünt werden, in Berlin sind das erst 20 Prozent der dafür geeigneten Gebäude. Hamburg gilt hier als Vorreiter, dort wurde vor drei Jahren beschlossen, 70 Prozent der Neubauten und geeigneten Dachflächen zu begrünen. Andere Ideen wären Gewächshäuser auf ungenutzte Dächer zu setzen und somit Menschen nah zu versorgen, Systeme zu entwickeln, die Regenwasser oder sogar Abwasser aufbereiten oder einfach neue Wohnräume zu schaffen. Zahlreiche Menschen haben eben dieses Potenzial entdeckt und konzipieren zukunftsweisende Nutzungsideen. Manche sind mit ihren Projekten bereits auf dem Dach, viele stecken noch in der Planungsphase. Wir haben die Visionäre von oben getroffen.
Kategorie: Aufmerksamkeit
Der Haken: Zugang, Sicherheitsmassnahmen
Dieses Projekt sitzt bereits seit 2011 auf dutzenden Dächern in Berlin, wie beispielsweise dem des Berliner Doms, des Abgeordnetenhauses oder des Deutschen Technikmuseums. Dort hat Berlin summt, ein Projekt der Stiftung für Mensch und Umwelt, etliche Bienenstöcke aufgestellt. Einerseits um den Honig- und Wildbienen ein neues zu Hause zu geben und andererseits - und vor allem - ein politisches Statement zu setzen, sowie Aufmerksamkeit zu schaffen.
Aufmerksamkeit für den Naturraum der Stadt und unseren Umgang damit. Die Stöcke sind jedoch nicht öffentlich zugänglich, sondern nur im Rahmen von Führungen zu besichtigen. Mitinitiatorin Corinna Hölzer sieht die Biene hier als Symbolträgerin und Honig als Bindemittel. „Das könnte schon bald ein neuer Trend werden", ist sie sich sicher. Allerdings sorgt sie der öffentliche Zugang auf künftige Dächer, denn Stabilität und Sicherheitsmaßnahmen spielen auch eine Rolle.
Kategorie: Wohnraum
Der Haken: Finanzierung
Die zwei Architekten Simon Becker und Andreas Rauch von Cabin Spacey sind fest überzeugt, dass die Zukunft auf den Dächern liegt. „Es gibt ein Grundbedürfnis da hoch zu wollen, man hat einen anderen Blick. Überall wo es möglich ist, wird diese Ebene künftig genutzt werden", sagt Simon. Mit ihrem Projekt Cabin Spacey wollen sie vor allem Wohnraum schaffen. Kleine, etwa 20 Quadratmeter große Kabinen aus nachhaltigen Ressourcen, sollen Platz für zwei Personen bieten.
Diese könnten auf ungenutzten Flächen, die statisch dafür geeignet sind, aufgestellt werden. Diese würden sie dann wie bei Airbnb zur Kurzmiete anbieten. Ihre Vision ist es, einen besonderen Ort zu schaffen, der für viele Menschen zugänglich ist und nicht nur den Leuten mit dem meisten Geld vorbehalten. Eigentlich hätte der erste Prototyp von Cabin Spacey bereits 2016 errichtet werden sollen, jedoch reichte das durch Crowdfunding eingenommene Budget noch nicht aus. Nun sind die beiden erneut im Gespräch und die erste Cabin soll demnächst gebaut sowie aufgestellt werden. Wo steht noch nicht fest.
Kategorie: Nah-Lebensmittel-Versorgung, Wohnraum
Der Haken: Standort finden
Auch das Unternehmen Dachfarm, bestehend aus verschiedenen Firmen und Forschungseinrichtungen, hat sich das Ziel gesetzt, ungenutzte Dachflächen nachhaltig zu nutzen. Mit ihrem Projekt Nachwachsende Zukunft, würde nicht nur Wohnraum, sondern auch ein Vertriebsort geschaffen, beispielsweise ein Supermarkt, an dem die frisch auf dem Dach angepflanzten Produkte verkauft werden könnten. Quasi als vernetztes Gesamtkonzept, ohne Transportkosten.
Die Geschäftsführerin Sara Wolff sieht in dem Konzept mehr als nur einen Trend. Sie sagt:„Damit könnten Probleme gelöst werden, die so von der Gesellschaft noch nicht als Probleme erkannt wurden." Wenn die Städte wachsen, müssten das auch die Flächen, an denen Nahrungsmittel produziert werden. Den Aspekt der sinnvollen Nachverdichtung in Berlin sieht auch der Architekt Jörg Finkbeiner auf den Dächern. Momentan seien sie mit mehreren Betreibern, wie Einzelhandelsketten, im Gespräch, jedoch stehe noch nichts Konkretes fest. Auf die Frage, warum Projekte dieser Art hier noch nicht umgesetzt wurden, antwortet Finkbeiner mit einem Lachen „Es ist eigentlich so naheliegend." Nachwachsende Zukunft ist ...
Kategorie: Stadtklima
Der Haken: Standort finden, Brandschutz
Das Projekt ist zwar nicht neu, aber der Wunsch aufs Dach zu steigen immer noch aktuell. Öffentlich für alle zugänglich, mit einem Zero-Waste-Café und eigenen Bienenstöcken - gilt das Urban-Gardening Projekt seit 2013 als Vorreiter für städtische Gemeinschaftsgärten in Berlin. Geplant war von Anfang an, wie der Name auch richtig suggeriert, Pflanzenbeete in luftiger Höhe zu errichten, ursprünglich am Schillerpark-Center im Wedding. Jedoch waren die Brandschutzmaßnahmen dort unzureichend und das Himmelbeet musste vorerst mit einem ebenerdigen Standort vorlieb nehmen. Ende 2018 wird die jetzige Fläche für ein Fußballprojekt der Amandla/Oliver-Kahn-Stiftung Platz machen.
Möglicherweise gibt es aber die Option den Stadtgarten auf das Dach einer Turnhalle, die in der Nähe gebaut werden soll, zu versetzen. „Das ist aber noch Zukunftsmusik", so die Sprecherin Anja Rillcke.
Kategorie: Abwasserregelung, Nah-Lebensmittel-Versorgung
Der Haken: Baugenehmigung
Vor vier Jahren rief Anja Steglich gemeinsam mit ihren Kolleginnen Angela Million, Grit Bürgow und weiteren Partnern das Forschungsprojekt Roofwaterfarm ins Leben. Dabei versuchen sie einen nachhaltigen Umgang mit Wasser zu finden und planen urbane Landwirtschaft auf Dächern. Die Technologie, die sie bis jetzt in einer Pilotanlage in Kreuzberg untersuchen, filtert das Abwasser von 250 Personen des angrenzenden Wohnhauses und macht es durch biologische Aufbereitung als Betriebswasser wieder nutzbar. „Somit können wir unser Trinkwasser fürs Trinken verwenden und das recycelte für den Rest. Es ist absurd unsere Toiletten mit Trinkwasser zu spülen", so der Betreiber der Anlage Erwin Nolde. Wir dürften uns nicht wundern, dass bei Starkregen in Berlin alles überläuft, wenn wir unser Abwasser ungefiltert, und Wasserströme nicht getrennt aufbereitet, in die ohnedies zu alte Kanalisation kippen, so das Forschungsteam.
Mit dem recycelten Wasser können Gewächshäuser bewässert und gedüngt werden, denn aufbereitetes Toilettenabwasser bietet sich als natürliches Düngemittel an. Ihre Vision ist es, mit speziell auf die Dächer zugeschnittenen Farming-Konzepten eine transparente Nah-Lebensmittel-Versorgung zu schaffen. Das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte Projekt steckt jedoch noch in der Planungsphase, die Grundlagen zur baulichen Genehmigung sind bereits in Vorbereitung. Stolz zeigt das Team einen Eintrag in ihrem Besucherbuch von Politikerin Renate Künast, darin schrieb sie 2015 „Das ist die Zukunft der Stadt. Nur wissen das noch nicht alle."
In: zitty 36/2017 12.09.2017
Original