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Haute Handwerk

Ihrem großen, aber stets kurzen Auftritt auf dem Laufsteg geht monatelange Arbeit voraus: Haute Couture vereint Designer-Visionen und traditionelles Handwerk. Dessen ganze Bandbreite zeigt nun eine Ausstellung in München

Tiefe Dekolletés, extreme Sanduhr-Silhouetten, aufwendige Ornament-Stickereien: John Gallianos Haute-Couture-Kollektion für Dior im Herbst 2004 begeisterte Publikum und Kritiker. Dass seine Ideen zur Realität wurden, verdankt Galliano auch einem fränkischen Familienbetrieb. In dem 4000-Seelen-Ort Diespeck setzt die 1903 gegründete Stickerei Müller selbst die kompliziertesten Entwürfe um. Denn hier werden Techniken beherrscht, die andere Stickereien längst nicht mehr anbieten.

Die Zusammenarbeit mit Dior begann 1996, mittlerweile lassen auch Givenchy und Louis Vuitton in dem in vierter Generation geführten Betrieb sticken. Auch die Stickereien für die Dior-Herbstkollektion 2004 entstanden hier. Nun sind sie als eines von vielen Beispielen für die kleinen, aber entscheidenden Details großer Mode in der Ausstellung „Die Werkstätten der Haute Couture" in der Münchner Galerie Handwerk zu sehen.

„Galliano wird in den Ateliers der handwerklichen métiers sehr geschätzt, denn er schätzt seinerseits die Ateliers und würdigt deren Können", sagt Michaela Braesel. Sie kuratierte die Ausstellung in der Galerie, der kulturellen Einrichtung der Handwerkskammer für München und Oberbayern, und besuchte dafür Werkstätten von Paris bis München. Braesel bekam Einblick in die Herstellung von Kunstblumen und Spitze, in Federverarbeitung und Maroquinerie, Webereien und Stickereien. Mit seiner Achtung vor dem Handwerk, ohne das die Haute Couture nur halb so glitzernd und raffiniert wäre, folgt Galliano dem Vorbild von Christian Dior. Der betonte schon 1954, wie wichtig es sei, die Tradition der kunsthandwerklichen Ateliers lebendig zu halten.

Nach seiner Verbannung aus der Modewelt wegen antisemitischer Entgleisungen 2011 ist Galliano seit 2014 als Kreativdirektor bei Maison Martin Margiela zurück. Auch hier arbeitet er eng mit dem Handwerk zusammen. Nicht nur mit dem traditionellen: In einer Vitrine liegt ein orangefarbener Silikonstoff in Strick-Optik, entstanden durch Formabguss und 3-D-Druck im Pariser Atelier von Marion Chopineau, einer Spezialistin für Oberflächengestaltung. Es ist nur ein Muster des Materials, das in der Margiela-Sommerkollektion 2018 in einem Trenchcoat zum Einsatz kam, eine moderne Variante des Trompe l'oeil. „Hier verbindet sich klassisches Handwerk mit technischer Innovation. Das Material, vor allem in der Verwendung als Trenchcoat, sorgt für einen Moment der Irritation", so Braesel, deren Begeisterung für Ideen wie diese spürbar ist.

„Wir möchten zeigen, wie die Dinge entstehen, welches Handwerk dahinter steckt und wie vielfältig die verschiedenen Bereiche sind. Manche Ateliers stehen etwa für Kunstblumen im traditionellen, naturalistischen Stil, andere stellen sie ganz modern dar. Wieder andere schaffen eigene Nischen, so wie Marion Chopineau." Die Pflege und Wertschätzung des Handwerks sei das Ziel einer jeden Ausstellung in der Galerie mit Fokus auf Kunsthandwerk und angewandte Kunst, deren offizieller Auftrag seit 50 Jahren die „Kulturvermittlung im Handwerk" ist. Sieben Ausstellungen finden hier jährlich statt. Nun dreht sich alles um die Details prachtvoller Mode.

Deren Dekonstruktion hat nichts Zerstörerisches, im Gegenteil: Sie schärft den Blick für das, bei den Haute-Couture-Schauen über den Laufsteg schwebt. Wer seine Mode bei diesem Rausch aus Farbe und Stoffen zeigen und als Haute Couture bezeichnen darf, ist in Frankreich streng geregelt: Ein Modehaus muss mindestens 20 Mitarbeiter haben und pro Jahr zwei handgenähte Kollektionen aus jeweils mindestens 35 Unikaten für Tages- und Abendmode zeigen. Lange galt zudem der Sitz in Paris als Voraussetzung, mittlerweile dürfen auch sogenannte korrespondierende Mitglieder wie das italienische Atelier Versace an den Haute-Couture-Schauen teilnehmen.

Im deutschen Sprachgebrauch schwingt keine solche Definition mit. Haute Couture meint hier oft einfach besonders hochwertige und individuell angefertigte Mode. So ist der Begriff auch bei der Münchner Ausstellung zu verstehen: „Wir definieren Haute Couture weniger institutionell als wörtlich im Sinne der hohen Schneiderkunst," sagt Braesel. Deshalb sind nicht nur Arbeiten von Ateliers zu sehen, die Häuser wie Chanel und Dior beliefern, sondern auch Entwürfe von Münchner Labels wie Talbot Runhof und Natascha Müllerschön. Letztere zeigt den Entstehungsprozess eines Abendkleides vom Prototypen aus Nesseltuch über das halbfertige Modell bis zur fertigen Robe. Die Fotografin Christin Losta wiederum fängt die verschiedenen Stadien in Aufnahmen aus Ateliers von Lacroix und Balenciaga und Modemuseen ein.

Im Mittelpunkt aber stehen die kleinen Details, deren aufwendige Verarbeitung sich oft erst auf den zweiten Blick erschließt - und nicht nur Kleidung einzigartig macht: So wird die Seidenweberei am Beispiel einer der langlebigsten It-Bags überhaupt gezeigt. Mehrere Modelle der Fendi Baguette, von der Fondazione Arte della Seta Lisio mit Blumen-, Vogel- und Dschungelmotiven versehen, lassen die schwindelerregenden Preise der Kult-Tasche in anderem Licht erscheinen. Mules von Christian Louboutin mit unzähligen, in Handarbeit zu Blüten arrangierten Pailletten aus dem Pariser Atelier Safrane Cortambert und futuristische High-Heels aus Eisen und Plastik, die Iris van Herpen mit dem Künstler Jólan van der Wiel schuf, muten kaum noch wie profane Schuhe an.

Je spezieller das Handwerk, desto seltener wird es. 1946 gab es allein in Paris 287 Ateliers für Kunstblumen, 1963 war ihre Zahl schon auf 51 gesunken. Heute gibt es noch drei. Um den Nachwuchs zu sichern, haben größere Ateliers wie die Stickerei Maison Lesage eigene Schulen. Auch Chanel will das Handwerk bewahren und vereint in seiner Tochtergesellschaft Paraffection mittlerweile 24 Ateliers, darunter Stickereien wie eben Lesage, Feder- und Kunstblumenateliers. Seit 2002 würdigt Chanel zudem einmal im Jahr das Handwerk mit der Métiers d'Art-Kollektion. „Die Ausstellung ist natürlich auch als Anreiz für die junge Generation gedacht, Handwerk einmal anders zu erleben und als Perspektive zu sehen" sagt Michaela Braesel. Und mit der Deutschen Meisterschule für Mode in München bestehe nicht nur angesichts der aktuellen Ausstellung enger Kontakt.

Der Zeitpunkt für den Blick hinter die Kulissen ist gut gewählt. Schließlich werden Rufe nach mehr Bewusstsein über die Herkunft und Entstehung von Kleidung immer lauter - im wörtlichen und im übertragenen Sinn. Immer seltener wird Mode als trivial abgetan, sondern als politisches, gesellschaftliches und kulturhistorisches Phänomen gesehen. Die ewige Frage, ob Mode eine Form der Kunst ist, kann aber auch diese Ausstellung nicht endgültig beantworten. „Dafür ist Mode zu vielschichtig," findet die Kuratorin. Ihr Resümé: „In der Haute Couture treffen Kunst, Mode und Kunsthandwerk aufeinander."

Das wohl deutlichste Beispiel der Ausstellung dafür ist ein Entwurf von John Galliano für die Dior-Frühlingskollektion 2007. Der Designer ließ eine weiße Leinenrobe per Airbrush, Siebdruck und Stickerei mit Katsushika Hokusais berühmten Motiv „Die große Welle vor Kanagawa" versehen. Wieder von einem spezialisierten Atelier, nämlich dem von Anne Gelbard in Paris. Und wieder ganz im Sinne des großen Christian Dior, nämlich das Kunsthandwerk lebendig zu halten.

Die Ausstellung „Die Werkstätten der Haute Couture" läuft bis zum 5. Oktober in der Galerie Handwerk in München

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