Corona hat die Modeindustrie in die Knie gezwungen - jedenfalls kurzzeitig: Wochenlang blieben Geschäfte geschlossen, alle Fashion-Weeks dieses Jahres wurden gestrichen oder werden als Online-Event stattfinden. Drops und Kollabs wurden verschoben. Die toxische Schnelllebigkeit, über die seit Jahren diskutiert wird, wurde abrupt und brutal gestoppt.
Jetzt stellt sich die Frage: Wie geht es weiter? Wie wird die erzwungene Auszeit und unsere neue Lebensrealität aus Abstand-Halten, Maske tragen und Kontaktbeschränkungen die Modewelt in den nächsten Wochen, Monaten und Jahren beeinflussen? Wie verändert sich unser Style, unser Kaufverhalten und unsere Einstellung gegenüber Mode durch die weltweite Pandemie?
>> Fünf Thesen, die aufzeigen, wo es hingehen könnte: Die London Fashion Week revolutioniert die Modewelt - und du wirst dabei sein #1 Unsere Outfits werden entweder viel krasser - oder komplett minimalistischModehistoriker diskutieren gerade heiß, wie Corona unser Stilempfinden beeinflusst hat: Einige glauben, dass die Mode jetzt einen riesigen Sprung macht - hin zu extravaganteren Outfits, opulenten Accessoires, spielerischen Drapierungen und generell mehr Mut.
Warum? Weil das ein Phänomen ist, das sich in der Modegeschichte vor allem nach Kriegen immer wiederholt. Denkt zum Beispiel mal an den "New Look", den Christian Dior 1946 nach dem Zweiten Weltkrieg schuf: Der Begriff bezeichnet den Modetrend der Nachkriegszeit und der 1950er-Jahre: Charakteristisch für die damalige Damenmode war eine sehr enge Taille, schmale Schultern und ein wadenlanger, weiter Rock - ein Look, der mehr an Abendrobe erinnerte, als dass er alltagstauglich war. Warum? Weil die Frauen, die in den Kriegsjahren als "Working Girls" Klamotten trugen, die einfach nur praktisch waren (mehr gab die damalige Materialknappheit gar nicht her), Bock hatten, sich wie Prinzessinnen zu fühlen. Sie hatten den Krieg überwunden, wollten sich elegant, reich und wertvoll fühlen - und das spiegelte sich in der Wahl ihrer Klamotten wieder.
Okay, wir haben hier in Europa gerade keinen langjährigen Krieg hinter uns - und unser Wohlstand ist auch in keiner Weise mit einer Verknappung wie in Kriegsjahren vergleichbar - aber ihr versteht das Konzept: Wer einige Wochen nur die gleiche Jogginghose trägt, kann es wieder viel mehr wertschätzen, wenn es plötzlich wieder Events und Anlässe gibt, für die man mal was Schönes anziehen kann.
Eine andere These unter Modehistorikern ist dagegen das komplette Gegenteil: Manche glauben nämlich auch, dass Corona so etwas wie das Ende des Aufstylens bedeutet. Sie gehen davon aus, dass Gesundheit und Wellness viel wichtiger werden und dass sich dieser Ansatz in den Farben, Materialien und Schnitten bemerkbar macht, die unsere Garderobe in den nächsten Jahren bestimmt. Also warme, erdige Töne, die uns nicht stressen. Weiche Materialien, die uns das Gefühl von Geborgenheit vermitteln. Hosen und Shirts, die nichts ausdrücken wollen - sondern nur dazu dienen, unseren Körper vor äußeren Einwirkungen zu schützen.
>> Veganes Leder - ist das Material wirklich besser als echtes Leder?
#2 Masken bleiben - vielleicht für immerWer immer noch mit den blau-weißen Einmalmasken unterwegs ist, die dem Gegenüber vermitteln, man sei gerade beim Zahnarzt: Gönnt euch endlich ein paar schöne Alltagsmasken. Denn das Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung wird sich auf kurz oder lang einbürgern - ob ihr es cool findet oder nicht. Oder glaubt ihr ernsthaft, die Maskenpflicht in öffentlichen Verkehrsmitteln und Co. wird so schnell wieder abgeschafft? Eben. In vielen asiatischen Ländern waren Masken schon lange vor Corona ein Fashionstatement - ein Trend, der sich auch bei uns etablieren wird.
Schon jetzt bietet so gut wie jede Modemarke ihre eigene Maske an - in den verschiedensten Ausführungen. Die Maske wird, dafür lege ich meine Hand ins Feuer, ein beständiges Accessoire der Zukunft sein - und uns bald genauso normal vorkommen, wie das Tragen einer Krawatte (wer braucht die eigentlich noch?), Mütze oder Handtasche.
#3 Online-Shopping wird noch wichtigerDer Moderiese Inditex, zu dem unter anderem Zara und Bershka gehören, gab diese Woche bekannt, in den kommenden zwei Jahren bis zu 1.200 Geschäfte schließen zu wollen - weil die Einnahmen während der Corona-Krise ausblieben. Stattdessen verdoppelten sich wohl alleine im April 2020 die Verkäufe über das Internet - macht ja auch Sinn: Erst konnten wir alle nicht in Läden shoppen gehen und jetzt, wo sie wieder aufhaben, macht es nicht wirklich Spaß: Striktere Einlasskontrollen als in Berliner Clubs, Maske anbehalten, stundenlanges Warten in der Umkleide, weil durch die Abstandsregeln nicht alle Kabinen benutzt werden dürfen - alle Zeichen deuten darauf hin, dass der stationäre Handel vor dem Aus steht.
Und seine wir ehrlich: Wie schlimm wäre das? Klar ist das persönliche Einkaufserlebnis immer noch schöner, als blind im Internet zu bestellen - aber stellt euch mal vor, was man alleine in Innenstädten mit dem ganzen Platz anstellen könnte, der gerade von langweiligen Fast-Fashion-Modeketten eingenommen wird: Mehr Wohnraum schaffen oder schönere gemeinschaftliche Flächen konzipieren, in denen Konsum nicht im Vordergrund steht, zum Beispiel. Online-Shops müssten sich richtig anstrengen, um auch digital ein aufregendes Einkaufserlebnis zu schaffen. Statt Seite um Seite trostlos abfotografierte Kleidungsstücke, könnte man mit krasseren Fotostrecken und interaktiven Elementen arbeiten - was wieder mehr Arbeitsplätze für Kreativschaffende bedeuten würde. Hört sich doch gar nicht so schlecht an, oder?
#4 Saisonale Trends und schnelllebige Drops verschwindenZwei Schauen im Jahr. Mehr will Gucci in Zukunft nicht mehr zeigen. Eine News, die Anfang Juni um die Welt ging. Denn sie zeigt, was mal gut funktionierende Normalität war - und wie verrückt mittlerweile die Drops und Launch-Kultur der meisten Modehäuser geworden ist: Statt Frühling/Sommer- und Herbst/Winter-Kollektionen produzieren viele Brands mittlerweile so viel, dass alle zwei Monate neue Produkte auf dem Markt erscheinen - ein Teufelskreis aus Nachfrage, Konsum und Überproduktion. Aber wer braucht das? Genau, niemand. Ein bisschen Hype ist sweet, aber zu viel stresst einfach nur - uns und die Umwelt. Viele Modetheoretiker*innen und Journalist*innen beschäftigen sich jetzt damit, ob die Hype-Kultur durch Corona vielleicht endlich ein Ende findet.
Nicht nur, weil die Krise gezeigt hat, dass es wichtigere Dinge gibt, als ein ständig neues Outfit. Sondern weil saisonale, schnelllebige Trends und kurzlebige Hypes gerade einfach gar nicht mehr zu unserer Gesellschaft passen. Durch Corona sind viele Menschen von Kurzarbeit oder einer plötzlichen Arbeitslosigkeit getroffen - den Luxus, sich ständig neue Klamotten zukaufen, fühlen gerade erst mal viele nicht mehr. Auch saisonale Trends machen gerade wenig Sinn: Weltweite Reisebeschränkungen lassen uns alle wieder regionaler und zeitloser denken. Statt den Bikini und dass Sommerkleid für den spontanen Strand-Urlaub greift man so lieber zu Dingen, die man jetzt in seiner eigenen Klimazone (und dann vielleicht nächstes Jahr im Urlaub wo auch immer) tragen kann. Heißt für Modemarken: Lieber weniger Kollektionen pro Jahr, dafür Designs, die sich vielfältig einsetzen lassen - und mit viel Freiheit kombiniert werden können.
#5 Weniger Konsum - mehr NachhaltigkeitDen eigenen Kleiderschrank aussortieren, mit Freunden Klamotten tauschen, Vintage-Shopping: Viele haben in der Corona-Zeit gemerkt, wie easy man ohne große Modeketten und ständigem Konsum zurechtkommt. Ein Phänomen, das perfekt zum Nachhaltigkeitsgedanken unserer Zeit (und schrumpfenden Geldbeuteln) passt - und sich deshalb wahrscheinlich auch in Zukunft weiter durchsetzen wird.
Wenn sich diese These bewahrheitet, hätte die Corona-Krise tatsächlich etwas Gutes für die Modewelt gehabt, denn sie würde für den Wandel sorgen, der schon lange als überfällig angeprangert wird. Und wann war eine bessere Zeit für Wandel als jetzt?
>> Warum Latex gerade der heißeste Scheiß ist, den die Modewelt zu bieten hat