Weltweit gibt es etwa eine Milliarde Schafe. Das ist mehr als ein Siebtel der Menschheit. Ungefähr tausend von ihnen sind schon um 5 Uhr morgens aus dem Ötztal aufgebrochen und erscheinen nun langsam wie ein Haufen Ameisen auf meinem Horizont. Ihre Unterkunft der vergangenen drei Monate liegt etwa sechs Stunden von dem auf über 3000m hoch gelegenen Hochjochhospiz entfernt, der Gipfel der nun vor uns liegt. Von der ehemaligen Grenzhütte zu Österreich sieht man hier am alpinen Ende des Südtiroler Schnalstals den Zug der Schafe schon von Weitem. Je mehr Steine man beim steilen Abstieg in Richtung Schafe zurücklasst, desto lauter werden die unzähligen Glocken, die wie ein diffuses Windspiel klingen und vom Gehirn schon bald ausgeblendet werden.
Bald sind auch Schreie wie „Lek Lek" erkennbar, ein für die Region typischer Lockruf. Ab und zu hört man auch ein nachgeahmtes Bellen und Mäh-en der knapp zehn Hirten, welche die Herde begleiten. Natürlich kommt auch das echte Bellen der fünf Hirtenhunde dazu, großteils Border Collies, die so aussehen als ob sie nur geduldig und aufgeregt darauf warten, bis sie Befehle erteilt bekommen. Dann laufen sie schnell und teilen etwa eine Gruppe ab, um Bewegung in die große Masse zu bekommen. Auch verwirrte Einzelgänger werden so wieder schnell auf den richtigen Weg gebracht.
Transhumanz und Transhumans
Aufgeteilt auf drei Tage legen die insgesamt 3000 Schafe mit ihren Hirten dabei 45 km auf einem Höhenunterschied von bis zu 5000 Meter zurück - und jetzt gehen sie den gleichen Weg zurück. Das ganze Spektakel ist Teil der sogenannten Transhumanz - eine spezielle, traditionelle Art der Weidewirtschaft, in der saisonal ein Wechsel der Weideplätze geschieht ( lateinisch: trans= jenseits, humus= Erde, Anm.). Ihre Sommerweideplätze liegen im Nordtiroler Ötztal und die Pfade, auf denen sie wandern, haben prähistorischen Ursprung im gesamten Mittelmeerraum. Ein genaues Datum der ersten Transhumanz in dieser Gegend gibt es nicht, jedoch sehr viele Hinweise, dass dieses Ritual schon lange existiert. Denn die Domestizierung von Schafen begann schon vor 9.000 Jahren. Im Schnalstal sind die Wiesen außerdem zu steil und zu mager, um beispielsweise Rinder zu halten, aber perfekt für die bergtauglichen Schafe.
Eine andere Assoziation mit dem Begriff könnte leicht abgeändert auf den Menschen bezogen werden: Transhumans würde somit heißen, dass auch wir Menschen einen solchen Weg zurücklegen. Eine Reise machen, etwas überwinden, zu uns kommen? Der meditative Aspekt des Weges ist kaum zu bestreiten, wenn man sich den Hirten anschließt und nur auf die einzelnen Steine konzentriert mit der Masse an Schaf, Hund und Mensch mitzieht. Ganz in der Nähe des heutigen Gipfels, am Tisenjoch, wurde Ötzi, die berühmte Gletschermumie aus der Jungsteinzeit, gefunden. Vermutlich auch ein Hirte. Umso besonderer wirkt dieser Weg nun, der in einer Einbuchtung zwischen recht verkümmerten Gletschern zur „Bellavista", also „Schönen Aussicht"- Hütte führt. Eine der Hirtinnen erzählt, dass sie schon seit 40 Jahren mit dem Rest ihrer neun Geschwister dabei ist. Eine Familientradition sozusagen und somit auch Teil einer hundertjährigen Logik, eine Tradition, die alle wie selbstverständlich mitmachen.
On the Road
„Nimmsch du des Scheißerle?" fragt einer ihrer Brüder und zeigt auf ein klein geratenes, schneeweißes Lamm, das ein bisschen verwirrt durch die Gegend stapft. Da es erst am Vorabend zur Welt gekommen ist, sieht man sogar noch die Nabelschnur mit vertrocknetem Blut. Nach einer Eingewöhnungsphase schmiegt sich das Wollknäuel wie eine flauschige Wärmflasche an den Bauch und entspannt sich auch. Gut so, denn drei Stunden durch alpines Gelände liegen noch vor uns. „Na schau, die packt des richtig an", meint er und stolz können wir weiterziehen - mit der Schafmama im Schlepptau. Ein anderer Helfer hat eine etwas schwierigere Mutter erwischt. Während meine bereitwillig folgt, erinnert diese eher an eine Mutter im fortgeschrittenen Alter, die ihr erstgeborenes Kind besorgt keinen Moment lang aus den Augen lassen will. Am Ende des Marsches wird sie sich ihre Stimme heiser geschrien haben. Wenn sie sich nach hinten biegt, um ihren Nachwuchs zu begutachten, wundert man sich, dass es noch keine Yoga-Pose gibt, die nach dieser Position benannt ist.
Schafkunde Lektion 1: Ab und zu soll man das Lamm dem Mutterschaf zeigen und es riechen lassen. Anregung für den Mutterinstinkt. Andere Hirten tragen bis zu vier Lämmer in mehrstöckigen „Kraxen", also Tragevorrichtungen für den Rücken, die schon seit hunderten Jahren für den Transport von Heu in den Alpen verwendet wurden. Das hilft vielleicht gegen die Krämpfe in den Armen, ist aber für die Mütter nur verwirrend - denn den Geruch vom eigenen Kind aus so vielen herauszuriechen sei nicht so einfach. Deswegen setzen unsere Hirten eher auf die traditionelle Variante. Einer von ihnen kommentiert die zärtliche Art, wie die Lämmer im Arm gehalten werden so: „Die Liebe kommt und geht - ma geht a Stückl mit dem, a Stückl mit dem." Gleich wie mit den Schafen? „Ja genau. Aber wir sind vielleicht decht a bissl anders." Sind wir das? Als das kleine Schaf in meinen Armen einschläft, bin ich mir da gar nicht mehr so sicher.
Ankunft im Blitzlichtgewitter
Nach etwa drei Stunden sieht man wieder eine große Ansammlung
vermeintlicher Ameisen – diesmal aber steht die Ankunft in der
Touristenmasse bevor. Die nächste Instruktion besagt, dass das kleine
Schaf noch bis zur „Schönen Aussicht“- Hütte getragen werden soll, damit
die Leute die „Attraktion“ fotografieren können. Fragt man die
Beteiligten, ob es ihnen denn nichts bringe, dass so viele Schaulustige
vorbeigekommen sind, antworten sie mit einem klaren „Nein“. Für die
Arbeit mit den Schafen ist es schlicht und einfach störend. Für die
Region bedeutet es jedoch viel und dabei liegt der komplette Aufwand bei
denen, die finanziell nichts dafür bekommen und auch nichts dafür
wollen. Ein paar Touristen sind der Schafmasse schon entgegengekommen,
teilweise in kurzer Hose und alle mit Kamera um den Hals. Manche wären
sogar bereit, für Fotos zu zahlen und fragen verwirrt danach.
Interessant werden die Motivationen der Einzelnen und die wirtschaftlichen Hintergründe, wenn man die Bedeutung der Schafe in der Region versteht. Für die Alpenbewohner waren Tätigkeiten rund um das Schaf schon früher die mitunter wichtigsten: So kommt zum Beispiel der lateinische Begriff für Geld, pecus, vom Wort „Tier“ oder Schaf. Wie wichtig die Schafe für das Überleben im Tal waren, zeigt zum Beispiel auch ein Gesetz aus dem 13. Jahrhundert, das besagt, dass die Beschlagnahme von Schafen nur dann erlaubt war, wenn der Schuldner sonst nichts hergeben konnte. Die Bedeutung für die lokale Wirtschaft nahm ab, als immer mehr billigere Wolle importiert wurde. Heute sieht das ganze unter diesem Aspekt noch schlechter aus. Die Schafhaltung ist kaum mehr rentabel. Alleine zur Osterzeit können sogenannte „Osterlämmer“ gut verkauft werden – jedoch wird auch hier der Preis gedrückt, da das Angebot zu dieser Zeit proportional steigt, wie uns einer der Schafhalter erzählt. Im Jahr 1940 haben noch über 6.000 Schafe den Alpenhauptkamm überquert, heute sind es halb so viele. Das passt zu dem Bild der Beschäftigung in der Landwirtschaft: 1950 waren es noch 73 Prozent der lokalen Bevölkerung, im Jahr 2000 nur noch 21 Prozent.
Ein umstrittener Wirtschaftssektor
Wieso also werden die Schafe weiterhin gehalten, wieso ein
derart aufwendiges Ritual jährlich wiederholt? Es sind sentimentale,
traditionelle, und familiäre Gründe. Eine hunderte Jahre alte Verbindung
zwischen Mensch und Natur, Mensch und Schaf; eine Begegnung auf
Augenhöhe durch die Anpassung ihrer Rhythmen.
Währenddessen hat die Region durch die Vermarktung des Spektakels Geld gerochen. Und zu der Arbeit mit den Schafen ist in den letzten Jahren zusätzlich die Arbeit mit den Touristen gekommen. „Wir hatten nichts mitzureden, als das publik gemacht wurde. Der Ansturm ist so gewaltig, dass wir oft gar nicht mehr durchkommen“, erzählt Sepp, einer der Beteiligten. Und nicht nur für sie steigt der Stress: Die Schafe waren jetzt drei Monate in der schönsten Natur. Den Schock den sie erleben, wenn plötzlich hunderte Menschen mit gezückten Fotoapparaten auf sie zukommen, kann man sich leicht vorstellen. „Ich begreif’ schon, dass nicht jeder was von Schafen versteht. Aber die meisten glauben, dass Schafe nur nett und zum Streicheln da sind.“ Deswegen seien viele auch nicht darauf vorbereitet, wenn manche Schafe aus Stress zu springen beginnen. Da kann es dann schon auch zu Verletzungen kommen – bei Vier- und Zweibeinern. Einer der Hirten sei deswegen sogar schon mal mit rund 700 Schafen über einen anderen Pass gegangen. Er hatte sich mit dem Hüttenwirt zerstritten und wagte den Weg über den größeren Gletscher. „Wir wollen kein Geld für unsere Arbeit. Es ist wie ein Hobby und man tut es gern – das war schon immer so. Man kann nicht alles zu Geld machen“, sagt uns Sepp und erzählt begeistert, dass auch heute noch immer genug begeisterte Junge nachkommen.
Tradition vs. Moderne
Auf dem etwa zweistündigen Weg ins Tal wird einem schnell klar,
wovon die Rede ist: Beim ersten steilen Stück, auf dem die Schafe
einzeln marschieren müssen, liegt das Problem nicht beim Gelände,
sondern bei Leuten, die nicht ausweichen. Informationen, wie man sich
verhalten sollte, hat keiner bekommen.
Das Fest nach der Ankunft, welches parallel zum Aufteilen der Schafe auf die einzelnen Bauernhöfe stattfindet, spiegelt das Erlebte schön wider. Eine Mischung aus Tradition und Moderne zwischen Volksmusik und Parkplatzsuche. Gleich wie unsere Wanderung: Ein altes Ritual, das in der heute von Tourismus und Moderne geprägten Region mit der Verschmelzung zurechtkommen muss. Und gleichzeitig auch ein positives Beispiel, wie eine durchaus fragile Region wie die Alpen nachhaltig und zukunftsorientiert genützt werden könnte.
Die Lämmer sind mittlerweile sicher im Stall gelandet. Die Alternative – dass sie auf einem der Grillteller als Lammspieß angeboten werden – wäre für alle neuen Ersatzmamas kaum zu ertragen.