Katharina Horban

Freie Journalistin, München

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Junge Münchner erzählen, welche Rolle Europa in ihrem Leben spielt

Der SPD-Politiker Korbinian Rüger setzt auf Dialog. Und macht Europawahlkampf an der Haustür. (Foto: Steffen Leiprecht)

Es gibt viele Orte, an denen junge Menschen mit der EU in Kontakt treten können: an der Haustür, in der Backstube oder im Klassenzimmer. Das bedeutet aber nicht, dass sie auch wählen gehen.

Eine Währung, Reisen ohne Ausweis, Studieren im Ausland - viele junge Münchner wissen um die Vorteile, die die Europäische Union bringt. Um noch mehr Jugendliche zu erreichen und für die EU zu begeistern, gibt es in München zahlreiche Initiativen: von Austauschprogrammen für Auszubildende über Politikerinnen, die mit Schülern diskutieren, bis hin zu engagierten Kandidaten für die Europawahl, die an Haustüren klingeln und für die Wahl werben.

Erasmus-Backstube

Im Klassenzimmer riecht es nach Puderzucker und Marzipan. Knapp 20 Auszubildende in Bäckerhauben und weißen Schürzen stehen an Edelstahltischen. Am ersten dekorieren Lisa Springer und Cornelia Revellé eine Torte, sie formen ein gelbes Marzipan-Küken. Daneben arbeiten Lea Scherer und Matilda Lammerz an bunten Blüten. Die vier Azubis sehen sich heute zum ersten Mal und sprechen Englisch miteinander, denn Lammerz und Revellé kommen aus Schweden. Die jungen Frauen nehmen an Erasmus Plus teil. Mit dem Programm werden nicht nur Studierende gefördert, sondern auch Menschen in der Berufsbildung. Scherer kannte das Programm vor ihrer Ausbildung nicht: "Ich war total überrascht, dass es so etwas an meiner Schule gibt."

Die Backstube, in der die Azubis stehen, befindet sich in der städtischen Berufsschule für das Bäcker- und Konditorenhandwerk. Die Schwedinnen haben heute ihren ersten Schultag. Sie werden die nächsten drei Wochen in Münchner Konditoreien verbringen. Heute verzieren sie mit ihren deutschen Kolleginnen Torten mit Ostermotiven. Lammerz, 18 Jahre alt und aus Göteborg, interessiert aber vor allem das deutsche Brot: "Da haben wir andere Sorten in Schweden." Scherer wird im Mai nach Helsinki reisen und hofft, dort ihr Englisch zu verbessern. Ein Abenteuer für sie, denn sie ist noch nicht geflogen.

Das Interesse von Azubis an Erasmus Plus ist in den vergangenen Jahren gestiegen. 2018 seien 450 Münchner Auszubildende ins europäische Ausland gegangen, sagt Stadtschulrätin Beatrix Zurek. Auch die Betriebe seien zunehmend interessiert daran, ihre Lehrlinge für einige Zeit wegzuschicken. Um am Programm teilnehmen zu können, müssen sich viele Auszubildende aber Urlaub nehmen. Zurek bedauert das: "Die Betriebe unterschätzen, welche Kenntnisse die Azubis aus dem Ausland mitbringen."

Für die EU ist Erasmus Plus ein Aushängeschild. Doch die Teilnahme daran führt nicht automatisch zu einem stärkeren Europa-Gefühl: Die Schwedin Lammerz etwa hat von der Europawahl noch nichts gehört. Auch Lisa Springer, die im Mai nach Göteborg geht, ist sich noch nicht sicher, ob sie wählen wird: "Zu viel Stress im Moment. Ich habe den Kopf voll mit anderen Dingen." Monika Hinterseer, die an der Berufsschule das Erasmus-Programm koordiniert, überrascht das nicht: "Unsere Schüler sind eher unpolitisch. Mit dem Programm wird ihnen bewusst, was in der EU alles möglich ist: Arbeitsfreiheit etwa, Reisen, ohne Visa beantragen zu müssen. Ein politisches Bewusstsein entwickelt sich erst später."

Wahlkampf an der Tür

"Ihr sollt zum Wählen motivieren und zeigen, dass ihr da seid", sagt Korbinian Rüger. Er steht mit sieben Mitstreitern am Rotkreuzplatz, verteilt Flyer und gibt letzte Tipps. Die Gespräche kurz halten und lächeln. Der 30-Jährige ist aufgewachsen in Planegg, promoviert an der Universität Oxford in Philosophie und hat ein Ziel: Europa reformieren. Dafür möchte er für die SPD ins Europäische Parlament einziehen. Er hat mit den Münchner Jusos einen Haustürwahlwahlkampf organisiert, wie ihn viele Politiker fast aller Parteien machen.

Die Wahlkämpfer bilden Zweiergruppen, eine geht ein Stück nach Westen in die Siedlung Zwölf Apostel. Baugleiche Genossenschaftswohnungen. "SPD-Milieu", sagt Rüger und biegt in die Lorschstraße. Er zieht mit seinem Wahlkampfleiter los. Kevin Meyer ist 19 Jahre alt und sortiert gerade noch seine Flyer, als Rüger schon klingelt. "Hallo, wir sind von der SPD und möchten mit Ihnen über Europa sprechen", sagt er. Das wird Rüger heute noch einige Male wiederholen. Die Tür wird geöffnet, Rüger und Meyer steigen in den vierten Stock. Oben angekommen, klingeln sie sich ins Erdgeschoss hinunter. Jedes Mal warten sie einige Sekunden und blicken lächelnd in den Türspion.

Zwölf Türen später riecht es nach Gemüseauflauf. Eine blonde Frau macht auf. Sie würde gerne über Europa sprechen, kocht aber gerade. "Wir wollen ja nichts anbrennen lassen", sagt Rüger. Er versucht es bei den Nachbarn. Ein junger Mann mit Schnauzer, ungefähr Mitte 20, macht die Tür auf, neben ihm erscheint eine junge Frau. "Kann ich dich dann mit meiner Zweitstimme wählen?", fragt er. Rügers Augen leuchten auf: "Du wählst bei der Europawahl nur eine Liste." Er ist in seinem Element. Seit 2012 ist er in der SPD, im Jahr 2013 hat er die Denkfabrik "Project for Democratic Union" mitgegründet. In Oberbayern steht er auf dem zweiten Listenplatz, bundesweit ist er die Nummer 66. Keine besonders gute Ausgangsposition, doch Europa ist sein Herzensthema.

Inzwischen wird es langsam dunkel. Im fünften Haus steht ein Jugendlicher in der Tür. "Ich habe nichts mit Politik zu tun, bin erst 18 geworden", sagt er schüchtern. "Das solltest du aber, es geht um unsere Zukunft", sagt Rüger und reicht ihm einen Flyer. "Danke, ich lese es mir durch." Im letzten Haus zählt Meyer die Flyer und wirft ein paar Exemplare in die Briefkästen. Nach zwei Stunden und 56 Türen stellt Rüger fest: Interesse an Europa generell besteht insbesondere bei älteren Menschen, junge interessieren sich für konkrete Themen. Rüger möchte nicht nur begeisterte Europäer erreichen. Die EU ist für ihn, wenn Menschen durch persönliche Begegnungen zusammenwachsen. Auch bei Gesprächen an der Tür.

Mittendrin im Weltgeschehen

Mülltrennung, Grundgesetz und Vermeidung von Spaßschlägereien. Diese Plakate hängen im Eingangsbereich der Mittelschule an der Schleißheimer Straße, doch heute geht es um Europa. Knapp 40 Schüler, eine neunte und eine zehnte Klasse, sitzen in fünf Stuhlreihen im Raum. Einige halten Zettel in der Hand, haben sich Fragen notiert. Immer wieder werden an diesem Vormittag zwei Welten aufeinander treffen.

"Was gibt uns die EU?", beginnt Margarete Bause. Große Fragen hat sich die Bundestagsabgeordnete der Grünen ausgesucht. Seit 2005 gehen in ganz Deutschland am EU-Projekttag jedes Jahr Politiker aus den Landtagen, dem Bundestag und dem Europaparlament an Schulen. Es geht um den Dialog: Anfangs schweift Bauses Blick über die Stuhlreihen, bis sich ein Arm hebt. Wie ihr Arbeitsalltag im Bundestag aussieht, wird die Politikerin von Selin gefragt. Die 16-Jährige hält ihren Fragenzettel fest in den Händen. Die Sprache ist förmlich, der Satz wirkt abgelesen - doch das Eis ist gebrochen.

Dann erkundigt sich Neuntklässler Jassin nach dem Umgang der EU mit Menschenrechtsverletzungen in China. Der 16-jährige Lyonel fragt: "Orban hat ja Plakate gegen Juncker aufgehängt. Was ist Ihre Meinung dazu?" Bause antwortet, dass man nicht Mitglied in einer Gemeinschaft und gleichzeitig gegen diese sein könne - denn es gelte: "Es gibt Regeln. Das ist wie in der Schule." Dass unter Politikern ähnliche Regeln herrschen wie im Schulbetrieb, wird beim Thema Streitkultur deutlich. Streiten mit Respekt vor der Meinung des anderen könne man immer, manchmal greifen jedoch höhere Instanzen ein.

So eindeutig ist die Lage im Brexit-Chaos nicht. Selin bringt ein mögliches zweites Referendum ins Gespräch, dieses Thema interessiert die Zehntklässlerin gerade am meisten. Bause redet von "Norwegen-Lösung" und "Soft Brexit", Fachbegriffe für komplizierte Sachverhalte, da können nicht alle Schüler folgen. Ob die Grünen von Marken Klamotten gesponsert bekommen wie die Promis, möchte ein Junge in der vierten Reihe wissen. Die anfängliche Zurückhaltung ist weg, Bauses Gehalt ist nun Thema - sie verdiene 9000 Euro und paar Zerquetschte. "Voll krass! Ich werd' auch Politiker", flüstert ein Schüler.

"Was wäre Deutschland ohne Ausländer?" - an einer Schule, bei der mehr als 90 Prozent der Schüler Migrationshintergrund haben, muss die Antwort auf diese Frage sitzen. Das weiß Bause: "Wenn alle Menschen ohne deutschen Pass das Land verlassen müssten, wie viele würden noch in diesem Raum sitzen?" Ein gutes Dutzend Hände hebt sich. Nationalismus ist für diese Schüler keine Option, da sind sich alle einig.

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