In den Semesterferien fährt unsere Redakteurin nach Kiel. Blöde Idee: Es ist nichts los. Dann taucht dieser Typ in Leopardenjacke auf.
Für jede Ausgabe reist ein ZEIT CAMPUS-Redakteur in eine Uni-Stadt. Wohin es geht, entscheidet der Zufall.Es ist stickig, es ist eng, über die Boxen läuft eine fürchterliche Technoversion von Blurs Song 2 - und ich bin euphorisch. In dieser Großraumdisco in Kiel fühle ich mich, als wäre ich noch mal 15 Jahre alt und zum ersten Mal an einem Türsteher vorbeigekommen. Ein Typ in Leopardenjacke steht vor mir an der Bar und bestellt Bier und Schnaps. Lärm, Lichter, Menschen, Schweiß: Weil ich eigentlich gar nicht hier sein dürfte, wird mich in dieser Nacht nichts mehr auf den Boden der Tatsachen zurückholen.
Dass ich mich heute Nacht so überschwänglich fühlen werde, ahne ich nicht, als ich 17 Stunden vorher in Kiel aus dem Bahnhofsgebäude trete. Der salzige Ostseewind bläst mir ins Gesicht. Ein pubertärer Punk trägt einen blau-grünen Iro - und Werbetafeln eines Pfandleihhauses über den Schultern.
Ich steige in ein muffiges Taxi, schaue mir im Meeresforschungsinstitut Tiefseeroboter an, fahre mit dem Bus zur Uni. Die Pressesprecherin erzählt mir von Plakaten: Studenten der Kunsthochschule haben die Darmkrankheit Morbus Crohn visualisiert, die Uni sei schließlich führend auf diesem Gebiet.
Auf dem menschenleeren Campus, wo die Sonnenstrahlen vom Beton der Gebäude reflektiert werden, trinke ich einen Kaffee und habe die erste Krise des Tages. Ich bin nach Kiel gefahren, um hier nach Geschichten zu suchen, doch ich komme zur falschen Zeit. Dann nämlich, wenn nichts los ist in der Stadt: im August, in den Semesterferien.
Im Campus-Café entdecke ich den Mann, der mich retten wird. Er bestellt ein Sandwich, trägt ein umgedrehtes Cap über den blonden Haaren, lila-orange gemusterte Socken, eine Blousonjacke mit Leopardenmuster. Ich ahne: Er ist der Typ, den hier jeder kennt - und ich muss ihn kennenlernen.
Keine zwei Stunden später sitze ich in seiner Küche. Basti ist 26, studiert Deutsch und Englisch. In den Semesterferien ist er meist unterwegs, er liebt es, durch Europa zu trampen. Wir essen Falafel und trinken Carlsberg aus Dosen, weil es die in einem Supermarkt für Dänen pfandfrei gibt. Basti hat irgendeinen Trick, wie er ohne Pass an das Bier kommt, bestimmt zwei Paletten davon lagert er unter seinem Bett: "Das Bier ist dann kühler." Diese Theorie verstehe ich nicht, aber es schmeckt. Eine Ritze des großen Fensters ist mit einem künstlichen Fuchsschwanz gestopft. An der Wand hängt das Foto eines grinsenden Kindergartenkindes mit Skateboard. "Der hat hier mal gewohnt", sagt Basti. Das Foto zeigt ihn, wie er von Laserstrahlen angeleuchtet wird.
Meine Reservierung im Hotel lasse ich verstreichen, ich habe längst entschieden: Bastis Pläne sollen auch meine sein. Wir schnappen uns eine Palette Dosenbier, schlendern durch Alleen, die von stattlichen Altbauten gesäumt sind. Die Palette wird unterwegs leichter. Wir klingeln bei Lisa, sie feiert, dass sie heute ihre Masterarbeit abgegeben hat. Im kleinen Wohnzimmer quetschen sich so viele Leute, dass die Gläser knapp werden und auch die Getränke: Wir trinken Gin mit Ginger Ale aus Blumentöpfen. Die Gurken essen wir so. Das Fenster steht offen, trotzdem brennen meine Augen, wir rauchen zu viel. Basti sitzt auf dem Fensterbrett. Fast jeder, der draußen vorbeiläuft, grüßt ihn. Man kennt sich.