Eigentlich sind die Zeiten der Wunderkammer vorbei, doch blitzt dann und wann noch eine rare Gelegenheit auf, sich dieser infantilen Verzauberung hinzugeben. Anfang des Jahres beispielsweise war es in Amsterdam so weit: Zwischen Wolpertinger-artigen Fabelwesen und "Sick Maps", die den Weg ins Herz eines eiterverbeulten Kontinents weisen, flimmerten wie von Geisterhand geöffnete Schranktüren über die Leinwände ins Dunkel des Raums. Oder Fratzen, die sich im Bruchteil einer Sekunde aus Knöpfen und Knochen oder Obst und Gemüse zusammenfinden und im nächsten Moment schon zu Essensbrei zermatscht werden konnten. Willkommen im Universum von Jan Svankmajer!
Das Amsterdamer Filminstitut Eye hatte dem Urgestein des Animationsfilms eine große Ausstellung gewidmet, die den 1934 geborenen Tschechen als den Allroundkünstler zeigen sollte, der er ist. Sie zeigte, was Svankmajers Arbeiten von 1964 bis heute ausmacht: Bewegung. Ihr Schöpfer gönnt ihnen einfach keine Ruhe.
Es ist wohl kein Zufall, dass er sich den Film als Medium ausgesucht hat - oder, vielleicht eher, dass dieses Medium den Weg zum Künstler gefunden hat. So machte der Tscheche immer wieder ganz beiläufig die Mechanik sichtbar, nach deren Regelwerk das Kino selbst funktioniert: Nach der so und so viele Bilder pro Sekunde die Illusion einer bewegten, zusammenhängenden Geschichte erschaffen.
Als Ideensammler ließ und lässt sich Jan Svankmajer von vielem inspirieren: Dem Surrealismus, als dessen vielleicht einziger lebender Vertreter er heute noch gelten darf. Von den Ess- und Liebesgewohnheiten seiner Artgenossen, dem Habsburgischen Erbe Prags, der frühen Naturkunde. Fortwährend praktiziert er eine Art Ausgleich der unvollkommenen Welt: Weil er beispielsweise das Prinzip afrikanischer Fetische in Europa vermisste, erschuf sich der Künstler einfach seine eigenen Objekte und bewahrte sie fortan in seinen Schubladen auf, aus denen er sie angeblich zum regelmäßigen Zwiegespräch herausholt.
Sehr viel bekannter ist Svankmajer natürlich als Filmemacher: Mehrere Dutzend Kurzfilme und später auch etliche Langfilme, darunter die Märchenverfilmung "Alice", hat er gedreht. Und damit nicht nur die Möglichkeiten analoger Trickfilmtechnik in allen Variationen ausgelotet, sondern auch etliche andere Filmemacher inspiriert: Terry Gilliam beruft sich beispielsweise gern auf den Tschechen, ebenso Tim Burton.
Jan Svankmajers Animationen sind nicht niedlich, aber sie bedienen sich der Materialien und Mittel klassischer Kindererzählung. Passend, dass er Geschichten unter anderem von Lewis Carroll verfilmte - Beispiele einer klugen Kinderliteratur, bevor der größtenteils die Ambivalenz ausgetrieben und die Düsterkeit in harmlosere Formen gegossen wurde. Kein Wunder auch, dass der Tscheche immer wieder auf die Psychoanalyse rekurriert: Sich die eigenen Dämonen anschauen, mit denen man so lebt.
Svankmajer lässt dem Unbehagen seinen Raum, veralbert und überzeichnet es zugleich. Realen Schauspielern verpasst der Regisseur in einzelnen Szenen Knetgesichter, nur um diese als Material fortan fies durch den Fleischwolf drehen oder in Form von Augenplätzchen aufs Backblech legen zu können. Oder nehmen wir einen Kurzfilm wie "The Flat" von 1968: Der Horror erscheint dem armen Protagonisten leibhaftig in Form seiner eigenen Wohnung, die sich in kafkaesken Situationen fortwährend gegen ihn selbst richtet. Steine tropfen aus dem Hahn und zertrümmern die Waschschüssel, Möbel krachen in sich zusammen, bis später kaum noch Substanz zum Bewohnen übrig bleibt.
Obwohl nie ein expliziter Politfilmemacher, erlegte ihm die sowjetische Besatzung irgendwann ein Berufsverbot auf. Von 1972 bis 1983 fertigte Svankmajer dann umso reichlicher Skulpturen und Bilder und kanalisierte seinen Schaffensdrang zum Beispiel in taktile Kunstwerke, die zum Anfassen gedacht sind und erst durch Interaktion mit ihrem Publikum, genau, zum Leben erwachen.
Gott der kleinen Dinge
Das Aufbäumen gegen die nur vermeintlich unbelebte Welt ging für den Animationsfilmemacher also auch während der filmischen Zwangspause weiter, wenn auch in anderer Form. Er ist der Beweger, Gott der kleinen Dinge, oder eben, wie die Amsterdamer Ausstellungsmacher ihn nannten, der Alchimist. Und was er alles zum Leben erweckt: Größtenteils Wesen und Zustände, von denen man zuvor gar nicht geahnt hätte, dass sie überhaupt auf dieser Erde existieren!
Nebenbei konnte man bei Svankmajer lernen, wie wenig es bedarf, um animierten Film entstehen zu lassen - oft genug reichen gekonnt gesetzte Zooms, Kameraschwenks, Schnitt-Stakkatos. Einen gewaltigen Anteil an diesem Effekt hat aber auch der Ton: Überall ächzt und quietscht und knarrt es, werden Streicher, Oboe und Percussioninstrumente auf jede einzelne Schnittsequenz gelegt.
Egal, ob man nun einen Langspielfilm schaut oder mehrere Kurzfilme hintereinander einlegt (die übrigens auch in Deutschland gut auf DVD zu haben sind): Der tollkühne Ritt durch den magischen Sound- und Bilderreigen bringt in der Regel eine gesunde Überforderung mit sich. Aber es ist eine andere, noch ganz im Analogen verwurzelte Erschöpfung, fühlbar anders als jene, die nach mehreren Stunden Schnitt-Stakkatos und Drone-Sound-Eskapaden neuerer Blockbuster eintreten kann.
Einen einzelnen Titel herauszugreifen, bleibt schwierig. Eines führt bei dem tschechischen Filmemacher zum anderen, und das eigentliche Geheimnis seines Oeuvres liegt vielleicht hierin: Wie er in diesem exorbitanten, tollen, aber für den Durchschnittsgeist im Durchschnittszustand eben auch überfordernden Wust immer wieder sehr präzise Filme und Bilder erschaffen konnte. An diesem Mittwoch wird Jan Svankmajer 85 Jahre alt.