Es ist 1962 oder 1958. Ganz Helvetia ist bleiern schön und schwer und öde. Ganz Helvetia? Nein, ein kleiner Flecken wird von Halbstarken bevölkert…Schweizer Rebellen. Sie hören laute Musik, tragen Rockerjacken und zauberhaft selbstgemachte Gürtelschnallen und Embleme, die man nirgendwo zuvor gesehen hat und nirgendwo jemals wieder sehen wird. Aliens mit zerzaustem Haar, Leder und Denim. All das, wovor die Eltern immer gewarnt hätten, wenn ihnen das schon möglich gewesen wäre, aber dafür hätten Sie wissen müssen, wovor es zu warnen gilt. Plötzlich diese Klänge aus dem Radio, der Anblick der Halbstarken: ein Schlag in die Magengrube. Fiebriges Nichts-verpassen-wollen. Was dann kam, besangen The Velvet Underground 1970 und viele andere Bands danach: Wie das Leben sich durch die neue Musik Bahn bricht, schließlich vom Rock’n’Roll gerettet wird. Dass man ihre Geschichte heute überhaupt erzählen kann, ist Karlheinz Weinberger zu verdanken. Und dem Göttinger Verlag, der seine Fotos nun in anekdotengespickter Buchform herausbringt.
Weinberger macht es einem nicht schwer, sich in die Protagonisten hineinzuversetzen, die er seit den 1950ern über Jahrzehnte porträtiert hat: Jugendliche und junge Erwachsene, die etwas anderes vom Leben erwarten als Berge, Kühe, die Enge des eigenen Kinderzimmers – und die ihre eigene Subkultur zum Beispiel aus US-amerikanischem Rock’n’Roll adaptierten. Die Anziehungskraft von Weinbergers Bildern, die jetzt mit „Swiss Rebels“ als Fotobuch verlegt wurden, ergibt sich aber nicht allein aus dem Kontrast von Rockern und Aussteigern auf saftigen Wiesen, wo man sie nie im Leben erwartet hätte (noch dazu in dieser Zeit). Vielmehr gelingt es dem Amateurfotografen, der keinerlei karrieretechnisch-künstlerischen Ambitionen hegte, aus seiner eigenen Faszination fürs Sujet eine universelle zu machen. Allein die Reihe mit den aberwitzig dekorierten Männerschößen ist Glamrock Pur: Wie die Protagonisten selbstbewusst mit ihren überdimensionierten, selbstgefertigten Schmuckstücken vor der Kamera stehen, handgemalter Elvis auf der Gürtelschnalle oder gar ein Hufeisen vorm Gemächt (kesse Reminiszenz an die regionalen Wurzeln!), die Hände hier und da in die Gürtelschlaufen gesteckt, ihr Schoß von Weinberger prominent in den Fokus gerückt. Ein namenloser Rebell hat gar seinen Reißverschluss ganz durch Schrauben ersetzt, die nun vor seinem denimverdeckten Genital prangen. Wer noch immer auf die perfekte Illustration einer Symbiose aus Prä-Potenz und Jugendkult, aus Sexualität und Musik gewartet hat: Hier ist sie!
Der Stil jener Halbstarken ist einer aus analogen Zeiten. Nicht einmal Fernsehgeräte waren flächendeckend vorhanden. Die Jugendbewegung wird in der Isolation geboren: Aus ihr heraus ergeben sich die prächtigen Kostümierungen der Gegner des Altbewährten, in einer eben genuin Schweizerischen Variante. Nostalgisch blickt der Betrachter auf Zeugnisse einer Zeit, in der DIY keine Attitüde, sondern eine Notwendigkeit und die passende Kleidung zum Lebensgefühl in keinem Kaufhaus zu haben war. Weinberger spürt seine Protagonisten auf Festivals, Volksfesten und Rockertreffen auf und lädt die Aussteiger zum Musikhören in seine Wohnung. Die Porträts im improvisierten Studio zeigen junge Halbstarke und Mädchen, nicht immer scharf, manchmal im Lachanfall verwackelt. Der Hobbyfotograf fängt sie ein, wie man Digital Natives-Teenager heute höchst selten zu Gesicht bekommt: Mit einiger Scheu vor der Kamera, zwischen kindlicher Schüchternheit und erwachendem Stolz auf die eigene Szenezugehörigkeit.
Dass diese umfassende Dokumentation einer sonst wohl kaum gewürdigten Sub- und Jugendkultur überhaupt öffentlich geworden ist, verdankt sich vielleicht auch dem Zufall: Der hat die richtigen Menschen auf Weinberges Arbeiten aufmerksam gemacht, erst 2000, mit 79 Jahren, kam die erste große Einzelausstellung. Wer ist dieser Mann, der seine Fotos offenbar nur aus ganz privatem Interesse, aus Faszination für jene Anderen in einer Welt aus Gleichem anfertigte? Der bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1986 als Lagerist arbeitete und bis zum Schluss im selben Haus wohnte, in dem er schon seine Kindheit und Jugend verbracht hatte? Der Bildband skizziert einen Fotografen, der in fremde Leben eintaucht, seinen Modellen Treffpunkt und Rückzugsort bietet, dabei aber stets Außenstehender bleibt. Vor den Rebellen porträtierte Karlheinz Weinberger Straßenarbeiter mit viel nackter Haut, reichlich homoerotisch aufgeladen. Später bezahlte er einen drogenabhängigen Stricher, den er in allen nur erdenklichen, oft expliziten Posen und hier auch in Farbe ablichtete, bei regelmäßigen Treffen, während derer er auch dessen körperlichen Verfall dokumentierte. Der berichtet viele Jahre später über die anfangs merkwürdigen, dann vertrauteren Begegnungen mit Karlheinz Weinberger, dem Dokumentar seines Lebens. Darüber hinaus weiß man wenig über den 2006 verstorbenen Schweizer: Wie viele seiner Zunft bleibt er der Mann hinter der Kamera – ein „Fotograf für das Ungewöhnliche“, wie er es einmal auf eine Visitenkarte drucken ließ.
„Swiss Rebels“ von Karlheinz Weinberger ist im Steidl-Verlag erschienen und kostet 65 Euro.
(Kurzversion auf SPON.)
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