Falls sich irgendjemand an die Benjamin Blümchen-Folge mit der Rolltreppe erinnert, die irgendwo im fiktiven Neustadt gen Himmel führt: Marburg hat, neben einigem anderen, eine leibhaftig gewordene Variante dieses Kindheitstraums, und den gleich an zwei Orten – einen Stadtaufzug, der einen in wenigen Sekunden von ganz unten nach fast ganz oben katapultiert. Kostenlos und bis tief in die Nacht hinein. Das gibt es deutschlandweit nur in drei weiteren Kommunen, die es mit Ausnahme von Helgoland vermutlich nicht einmal in diese Serie schaffen würden. Kritiker bezeichnen Marburgs Aufzüge übrigens als „versifft“ oder gar „eine Schande“ für die Stadt; wer entsprechende Ansprüche an seinen Aufzug mitbringt, sei hiermit also gewarnt. Komfortabel ist es allemal: Niemand muss sich vor den Fitteren genieren, dass er nur gequält den steilen Weg in Marburgs historischen Kern hinaufkommt; auch mit Kinderwagen, Rollstuhl oder Rollator kann man den Stadtrundgang einigermaßen begehen (kleine Einschränkung: Kopfsteinpflaster.) Alternativ trifft man sich einfach in der Oberstadt, wenn jeder seinen Aufstieg nach Gusto absolviert hat.
Auch sonst muss man gar nicht lange suchen, um die Stadt zu mögen. Marburg ist ein überaus pittoresker Ort, dessen Idylle dem Gelegenheitsbesucher nicht gleich die Luft abschnürt. Oben in der Innen- respektive Oberstadt, zu Fuße des stadtprofilgebenden Schlosses, kraxelt man zwischen viel Fachwerk hoch und wieder runter, isst ein Gericht im programmatischen „Café Auflauf“, das heute jeglichen alternativstudentischen Chic abgelegt hat, aber wie eh und je eben: Aufläufe in allen Konstellationen serviert, oder trinkt einen Kaffee in der „Konditorei mit Terrassencafé“ Vetter. Geschwungene Kaffeehausstühle, prächtige Kuchentheke und dieses Farbkonzept zwischen Greige und Rosa: Man kann nur hoffen, dass es hier auch in hundert Jahren noch so aussehen wird.
Trotzdem war früher alles besser und natürlich war’s das auch in Marburg. Früher hatte hier noch der Joschka Fischer gewohnt, erklärt einer, der vor Jahrzehnten in der Stadt studiert hat, früher hatte man sich noch halluzinogene Pilze ins Omelett gemacht (beide Anekdoten separat voneinander). Der Marburger Studentenclub-DJ ist auch nicht mehr so begeistert von seiner Stadt, seit die nur noch Übergangsszenario für Bachelor- und Masterstudierende sei, die fleißig in zwei oder drei Jahren durchstudiert haben und dann wieder verschwinden, wenn sie überhaupt vor Ort wohnen und nicht pendeln – mit studentischem Müßiggang zwischendurch sei da sowieso Essig. Man identifiziert sich mit allem Möglichen und das nicht zu knapp, aber nicht mehr so sehr mit Orten (sofern sie nicht die Strahlkraft von St. Pauli, Berlin oder L.A. haben). Wobei Marburg, vorletztes Zitat, einige spezielle Aushängeschilder mitnehmen kann: „Marburg ist da, wo Rechts und Links friedlich koexistieren, “ fasste einmal ein Professor zusammen, was in einer besseren Welt zum kessen Stadtmarketing gereichen würde.
Fest steht: In der Liga der 70.000er ist diese Stadt immer noch recht weit vorn dabei, und das liegt selbstverständlich auch an der akademischen Tradition. Die beginnt im Jahr 1527, als die Universität von Philipp dem Großmütigen als erste protestantische Institution weltweit gegründet wurde. Bis heute ist sie einer der wichtigsten Arbeitgeber der Stadt und eine renommierte Adresse für Wissenschaft und Forschung – berühmt ist zum Beispiel das Zentrum für unerkannte und seltene Krankheiten am Uniklinikum, das sich allerdings gleich auf seiner Homepage von jeglichem Dr. House-Vergleich losspricht und Betroffene explizit darauf hinweist, dass die Diagnose zunächst an Hand der eingereichten Unterlagen und nicht wie in der Lieblingsserie aller Hypochonder und Alarmisten am lebenden Exemplar gestellt wird. Auch in den Medienwissenschaften lässt man sich nicht lumpen: Welche Stadt in dieser Größenordnung vergibt schon einen eigenen Kamerapreis? Überhaupt ist es um den Film noch recht gut bestellt. Neben dem Multiplex sind in Marburg zwei Programmkinos beheimatet, eines lässt im Sommer Stanley Kubricks Odyssee im Weltraum über die Open Air-Leinwand am Schlosspark laufen. Und als quasi viertes Lichtspielhaus könnte man das Stehkino von Professor Giesenfeld anführen, das jeden Sonntag ab 17 Uhr im privaten Kameramuseum kostenlos Stummfilme und Archivaufnahmen präsentiert.
Schließlich gibt es noch eine Art Marburger Prototyp, der vielleicht zu Unrecht bis heute für Labels wie „studentisch“ herhalten muss, weil jener Bedeutungszusammenhang immer noch genutzt wird wie vor 30 Jahren: Der Buch- und Comicladen plus das gleichnamige Café „Roter Stern“, von seinen Mitarbeitern im Kollektiv geführt und besonders hübsch im Frühling und Sommer, wenn man draußen sehr nah am Fluss sitzen kann. Im Zweifel stundenlang: Weder Gäste noch Mitarbeiter sollen sich zu irgendetwas verpflichtet fühlen – kein sogenannter Konsumzwang, keine von oben angeordnete Spritzigkeit, auch mal kein Danke fürs Trinkgeld. Dafür gibt es heute euphorische Online-Bewertungen mit rührendem Hinweis: „Nix für Schicki-Micki-Typen!“
Apropos Lahn: Wer ein Faible fürs unbetonierte Ufer hegt, dem dürfte dieser Ort mit Naturstrand, Büschen und Bäumen mitten in der Stadt die Tränen in die Augen treiben. Man kann verweilen, in die eine Richtung Kanufahren oder in beide Richtungen mit dem Rad. Oder man fährt ein Stück mit Auto oder Bus und zieht dann über die Wanderwege: Rund um die Stadt lassen sich Marburger Land und der Burgwald entdecken, westlich davon erstreckt sich der Naturpark Lahn-Dill-Bergland. Und noch einmal eine knappe Stunde entfernt liegen die Wintersportgebiete rund um, genau, Winterberg und, etwas weiter nordöstlich, der Nationalpark Kellerwald-Edersee, deren anliegenden Orte man dank neuer Zugstrecke nun auch direkt mit der Bahn erreicht (was auf der parkeigenen Website nach einigen Jahren noch nicht angekommen scheint.)
Doch auch wer einen Tag oder zwei ganz in der Stadt bleibt,
dürfte in der richtigen Jahreszeit überzeugt werden: So grün (Lahnufer,
Botanischer Garten!), so nett, so lauschig ist es hier; von vielem gibt’s nur
ein Ding (eine Uni, einen richtigen Club, einen Bahnhof, eine Innenstadt), aber
das ist verkraftbar, denn die Stadt erstreckt sich einigermaßen weitläufig über
mehrere Kilometer Länge und Breite entlang von Fluss und Bergen. Es fällt einem
nicht ganz so schnell der Himmel auf den Kopf, und wenn doch, fährt man eben mit
dem Aufzug, läuft noch ein Stück und ist dann ganz oben: Auf dem Landgrafenschloss mit dem benachbarten Park,
dessen nahezu 360-Grad-Panorama den Blick wieder weitet (und manchem gar das
sogenannte Herz). Anekdoten können ergo auch hier schnell entstehen: Wie die
von der Verwandten, die nach dem Ehestreit immer wieder Stunden fern von zu
Hause zu finden war: „Ich muss raus, ich muss nach Marburg!“ erklärte sie, und
dort tat sie nichts anderes, als zufrieden vom Schlossberg hinab ins Tal zu blicken.
[Auf ZEIT ONLINE leicht gekürzt erschienen.]
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