In Mailand gibt es eine Welt, in der Licht und Marmor fließen,
grüne Oasen sprießen und wo Leuchten, Türknöpfe, Briefkästen
Einzelanfertigungen von Designern sind. Weshalb man all diese Designerobjekte,
ja selbst den Marmor auf einem Foto mit einer Legende ausstatten müsste wie
sonst die Kleidungsstücke im Modemagazin. Jene Welt ist für quasi jedermann
einsehbar, der gerade im passenden Moment vorbeiläuft, wenn sich die schwere
Schwingtür in die richtige Richtung neigt. Was die Neugier auf jenen Ort
naturgemäß nur noch steigert: Denn spannender als die absolute Offenbarung ist,
wie jeder weiß, das angedeutete Geheimnis.
Ein Bildband widmet sich nun jenem Phänomen, ohne den Zauber dabei
auch nur annähernd zu entblößen: Ingressi Di Milano, (Haus-) Eingänge von
Mailand heißt die Sammlung, standesgemäß schwer und massiv wie bester
Naturstein. Einige sind überwältigend schön, andere designhistorisch spannend, alle
zusammengenommen spektakulär. 144 solcher Exemplare hat der Fotograf und
Redakteur Karl Kolbitz aufgetan und einigermaßen nüchtern präsentiert – Mailands
Eingänge brauchen keine extravagante Ausleuchtung und Inszenierung. Der Anlass,
sich jenen zu widmen, ist schnell erklärt: Es gab einfach bis dato keine
Fotoserie und kein Buch zum Thema.
Vielleicht war es ganz gut so, dass Mailand bereits vor Jahrhunderten als „die hässliche Stadt“ galt und niemals in einer Gefälligkeitsliga klassischer Schönheit spielte wie, sagen wir, Rom. Noch heute verbinden Besucher aus Italien und der Welt mit ihrem Namen vor allem brutalistischen Beton. Die berühmte Theorie vom Mangel, der nötig ist, um Großes, Schönes und Besonderes zu schaffen: Vielleicht liegt hierin der Motor, warum Mailand und nicht Rom Hauptstadt des Designs wurde – und wieso die Milaneser nicht nur ihre Hauseingänge, sondern etliche Orte des privaten und öffentlichen Lebens besonders außergewöhnlich gestalteten. Als Teenager war Kolbitz zum ersten Mal in der Stadt und seitdem hingerissen von ihrer Schönheit, die sich in den Bahnstationen, auf den Piazzas und eben auch in den ganz normalen Wohnstraßen versteckte. Natürlich, räumt der Fotograf ein: Wer im wiedervereinigten Berlin aufgewachsen ist, für den ist es nicht schwer, klassisch-schönere Orte zu finden. Tatsächlich kann Mailand auf ein reiches modernistisches Erbe zurückblicken – und auch das vermutlich nicht zuletzt, weil die Stadt noch nicht überstopft war mit Pracht und Prunk, sondern Raum blieb für ästhetische Neuerungen.
Im Falle der Hauseingänge, jener merkwürdigen Übergänge zwischen Drinnen und Draußen, haben die Jahre 1920 bis 1970 eine ganze Welt zum Entdecken hervorgebracht: Einige sind im Art déco gestaltet, andere in der Spielart des italienischen Modernismus. Oder im extravaganten Stile Gio Pontis – der italienische Architekt und Designer gestaltete 1954 ein Treppenhaus voll mit pastellblauen, leuchtend gelben und roten Diamant- und Obeliskformen. Auf anderen Seiten finden sich spannende Ensembles aus Waschbeton-Reliefs, Marmor und Designersesseln auf khakifarbenem Teppich oder vermeintliche Geheimgänge mit hinterleuchteten Trompe-l’œil-Türen. Überhaupt: Wenn die Räume ausgeleuchtet sind, dann gern indirekt, versteckt. Dazwischen atemberaubende Treppengeländer und Diamantfliesen, antike Statuen auf Designerböden, riesige Drehbriefkästen, handgefertigte Türgriffe und moderne Skulpturen, aberwitzige Mosaike und Zwischenräume, die mit Pflanzeninseln und Goldakzenten geradewegs dem Set eines Fassbinder-Films entsprungen sein könnten.
Natürlich geht es auch um Marmor, viel Marmor (und manchmal anderen Naturstein): Er stellt den Boden und vielerorts auch die Wände, Treppenstufen und Decken. Doch Marmor ist nicht gleich Marmor, vielmehr gibt es mehrere Dutzend Sorten, Farben und Musterungen, allein in Italien. Nur folgerichtig, dass für den Bildband gleich zwei Expertinnen angeheuert wurde, die allein dafür verantwortlich zeichneten, die verschiedenen Steinsorten präzise zu benennen. Neben den Legenden wie im besten, siehe Anfang, Modemagazin enthält der Band kurze und längere Essays zur „hässlichen Stadt“, zum Geheimnis des Eingangs, zur Tradition italienischer Kacheln und zu den Pflanzen, die vielerorts eine doch bedeutende Nebenrolle in diesen faszinierenden Gesamtarrangements spielen.
Mailands Ingressi sind von verschwenderisch schöner Opulenz, ohne jemals protzig zu sein. Und können deshalb auch, ganz Understatement, mal dunklen Marmortunnel zu schnöde aluminiumfarbenen Türen kombinieren. Darin liegt der eigentliche Luxus jener Milaneser Eingangswelten: Wer hat, der hat. Spätestens, wenn im Bildhintergrund irgendwo durch die gläsernen Flügeltüren plötzlich die wenig aufregenden Autos der Jetztzeit auftauchen, kommt Wehmut auf: Viel lieber würde man den Blick wieder umkehren und noch eine Weile jene architektonischen Geheimwelten erkunden, auf die man in diesem Band zumindest einen Blick erhaschen kann.
Entryways of Milan – Ingressi di Milano, € 49.99, Taschen. Die zugehörige Foto-Ausstellung läuft noch bis zum 18. Juni im Mailänder Taschen-Store.
[Der Text erschien leicht gekürzt auf Spiegel Online.]
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