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Traumpfade am anderen Ende der Welt

In Down Under unterwegs auf den Spuren der Aborigines Einzigartige Naturlandschaften, pulsierende Städte und eine 40 000 Jahre alte Kultur der Ureinwohner - Australien ist unvergleichlich. Unsere Autorin Julica Jungehülsing ist für Sie schon mal vorausgereist.

Unter dem Felshang ist es angenehm kühl, Eukalyptusbäume filtern das gleißende Sonnenlicht. Willie Gordon lächelt herzlich und eine Spur verschmitzt. Mit seinem Stock zeigt er auf frische Dingospuren im Sand. Eine winzige Eidechse löscht ihren Durst an auf ein Blatt geperlten Wassertropfen. Über den Bäumen sind die Umrisse einer in den Fels gemalten Figur zu erkennen. Doch der Mann vom Volk der Guugu Yimithirr aus Queenslands tropischem Norden denkt gar nicht daran, gleich nach Ankunft seiner Besucher Vorträge zu halten. Stattdessen fragt er eine junge Frau, was für sie Leben ist. Minuten später diskutiert die Gruppe über Werte und Worte, Kultur und Gegenwart. Und natürlich über Australiens Ureinwohner.

"Mit Willie Gordon unterwegs: Spannender Streifzug durch das Land seiner Ahnen"

Viele Touren thematisieren inzwischen das Leben und die Kultur der ersten Bewohner des Kontinents, mit über 40 000 Jahren eines der ältesten lebenden Völker der Welt. Sie führen in die Weiten des Outbacks, in tropische Wälder, an türkisblaue Küsten oder durch uralte Gebirgszüge. Besonders intensiv gelingt dieser "Aboriginal-Tourismus", wenn zwischen dem Ort der Begegnung und dem Guide eine enge Verbindung besteht - wie bei Willie Gordon, der Zeichnungen erklärt, an denen noch sein Großvater mitgewirkt hat. Nicht weit von hier windet sich der Fluss Endeavour durchs Buschland, öffnen sich weite Blicke übers Korallenmeer. Im Süden bedeckt üppige Vegetation die Hügel von Australiens größtem tropischen Regenwald. Lichter und weiter ist die Savanne in Gordons Land, dessen Grenzen erloschene Vulkankrater, Täler und Wasserstraßen markieren. Hohe Bäume schützen die Felshänge der Wangaar-Wuri-Gegend, in die sich seine Vorfahren seit Generationen vor Geburten und nach Todesfällen zurückzogen.

"Landschaft ohne Ende: Allein mit der Natur wie seit 40 000 Jahren"

Es ist wunderbar still. Doch statt Mythen und Vergangenheit zu beschwören, gibt Willie der Gegenwart Raum. Er spricht über Spiritualität und Computer, und er stellt Fragen. Von Land und Menschen zu lernen interessiert ihn mehr als das exakte Alter der Linien im Fels. "Authentizität, hmm", sagt Willie unbeeindruckt, "viele Besucher sorgen sich vor allem um die Echtheit der Kunst." Für ihn steckt die Wahrhaftigkeit in der Geschichte. "Wer diese Wand mit Figuren fotografiert, hat genau das: ein Foto von einem Fels mit roten Figuren", sagt er. "Bedeutsam und authentisch wird es erst, wenn man die Geschichte kennt, die zu den Bildern gehört." Werde sie jedoch nicht erzählt, verschwinde sie. Auch deshalb ist Willie Gordon, der früher Schweißer und Sozialarbeiter war, heute ein "Storyteller".

Grüne Ameisen als Anti-Erkältungstrunk

Nördlich von Cooktown wird Asphalt selten. Die Stadt ist ein letzter Außenposten vor Cape Yorks weiter Wildnis. 1770 reparierte hier James Cook seine "Endeavour", die im Korallenmeer leckgeschlagen war. Seine Crew campierte an einer Flussbiegung, die Guugu-Yimithirr-Leute Gungardie nannten. Von ihnen lernte Cook ihren Namen für ein seltsames Springtier: "gangurru". "Nur das K hat er missverstanden", lacht Gordon. Gut hundert Jahre passierte um Gungardie wenig, ehe nach einem kurzen Goldrausch erneut ruhige Zeiten folgten.

"Cape Tribulation im Daintree National Park: Spektakuläre Hügelketten, türkisblaues Meer und endlose Sandstrände"

Nicht jedoch für die Guugu Yimithirr, deren Leben sich radikal veränderte: Krankheiten, Vertreibung, in Missionen verschwundene Mischlingskinder. Noch vor 45 Jahren trennte Cooktowns Boundary Street Ureinwohner von neuen Siedlern. Willie Gordon erzählt, wie seine Mutter während einer Krebsbehandlung ein ausgedientes Armee-Bett auf der Krankenhaus-Veranda bekam. Verbittert haben ihn die Erlebnisse nicht. "Wenn wir zu zornig zurückblicken, verlieren wir die Zukunft aus den Augen", sagt er und rettet im nächsten Satz etwas praktisches Wissen ins Jetzt: Wie grüne Ameisen zum Anti-Erkältungstrunk werden, habe er von seinem Vater gelernt, er zeigt seinen Besuchern Grasbäume, in denen proteinhaltige Larven leben und Eukalyptus, dessen Harz zum Sprühverband taugt. "Heute glauben viele Teenager, Lernen sei überflüssig, weil sie alles googeln können", er schüttelt den Kopf und zeigt ins Tal, wo ein Baum gelbweiße Blüten trägt. "Wenn diese Akazie blüht, beenden die Barramundis ihren Winterschlaf, sind hungrig und beißen gut." Garantiert kein Bildschirmwissen.

"Früchte, Nüsse, Larven: Alles, was die Natur hergibt, ist von Nutzen" "Edge of Trees": Die Vergangenheit hat Töne

Gut 500 000 der 22,7 Millionen Australier geben heute ihre Herkunft als Aborigines oder Torres-Strait-Insulaner an. Knapp ein Zehntel von ihnen lebt nicht im Busch, sondern in Sydney, Australiens größter und ältester Stadt: zwischen Palm Beach im Norden, mehr als 30 Ozeanstränden im Osten, einem Nationalpark und den Blue Mountains. Herz ihrer Stadt sind die Buchten des Hafens, deren Ufer Hügel mit heiß begehrten Apartments säumen. Seit die Industrie nach Port Botany umsiedelte, ist das funkelnde Blau vor allem Spielplatz und Weg zur Arbeit: Im Minutentakt spucken grün-gelbe Fähren morgens ihre Passagiere zwischen Oper und Hafenbrücke aus. Die Fassaden der Bürotürme spiegeln, was Gouverneur Arthur Philipp 1788 den "schönsten Hafen der Welt" nannte. Nur bot sich ihm ein völlig anderes Bild. Wo heute Fähren tuten und Taxen hupen, mündete ein Fluss. Über hellem Sandstein rauschten Akazien in der Brise. Aborigines aßen im Schatten Austern, wo heute das Opernhaus seine Muscheldächer ins Blau streckt.

"Die Harbour Bridge und die Austernform der Oper von Sydney gehören zu den bekanntesten Wahrzeichen Australiens"

So lange ist es nicht her, dass 1500 Sträflinge und Soldaten die elf Schiffe von Philipps First Fleet verließen: Nur 224 Jahre waren nötig, um in der Bucht eine 4,6 Millionen-Einwohner-Metropole zu bauen. 750  000 Aborigines lebten damals Schätzungen zufolge auf dem Kontinent, Hunderte einzelner Völker mit mehr als 250 Sprachen. Für die Cadigal der Eora-Region hatte die Flotte in ihrem Vorgarten besonders dramatische Folgen: Wenigstens jeder Zweite war ein Jahr später an Pocken gestorben, viele Weitere wurden vertrieben. Ein paar Blocks jenseits vom Quay hat diese Vergangenheit Töne: "Edge of Trees" heißt eine klingende Skulptur, die vor dem Museum of Sydney daran erinnert, wie die Cadigal die Neuankömmlinge beobachteten. Viel zeugt in Sydney nicht mehr von jener Zeit, einige Spuren bleiben sogar meist unbemerkt: In die Sandsteinfelsen oberhalb von Bondi Beach ritzten die Cadigal einen Fisch. Hunderte laufen täglich von dem Strand aus über den Küstenweg daran vorbei, nur wenigen fällt die haifischgroße Markierung auf.

Melbourne, die "europäische" Hauptstadt

Wie Hamburg und München kabbeln sich Melbourne und Sydney um Punkte auf der Beliebtheitsskala. Victorias Hauptstadt mögen Strände und glamouröse Wahrzeichen fehlen, doch der Charme der Stadt am Yarra Fluss macht vieles wett. Dass die Stimmung in der 4,1 Millionen-Einwohner-Stadt gern "europäischer" genannt wird, liegt vor allem an Menschen und Straßenbild: Trambahnen klingeln vorbei an viktorianischen Sandsteinbauten, den futuristischen Zacken des Federation Square und originellen Designläden. In lebendigen Gassen mischen sich exotische Küchen- und Kaffeedüfte: Melbournes italienische Gemeinde ist stolz darauf, in den 1950er Jahren Australiens erster Espressomaschine Dampf gemacht zu haben. Einwanderer aus über 140 Nationen sorgen dafür, dass "Multikulti" eher Alltag als Mode ist. Neubürger aus Griechenland, China, Vietnam, Afrika und Indien prägen nicht nur die Viertel, sondern auch die Küche. Dort hat sogar noch ein Ureinwohner Platz: TV-Koch Mark "black" Olive versorgt Melbournes schicke Feten mit Känguru-Snacks.

Maritime Schönheit an der Great Ocean Road

Doch auch in Victoria sind Spuren traditioneller Kultur im Hinterland sichtbarer als in urbanen Zentren, wo oftmals negative Schlagzeilen über die Aborigines erscheinen. Doch es gibt auch immer häufiger positive Nachrichten: In Melbourne etwa machte Michael Dodson, ein Yawuru aus Westaustralien, als erster indigener Jurastudent sein Examen. Professor Dodson ist heute Direktor des Zentrums für Indigene Studien und einer von zahlreichen Aborigines, die als erfolgreiche Künstler oder Politiker, Musiker, Juristen oder Sportler den Alltag des Landes mitbestimmen.

"Skulpturen wie Kunstwerke, von Wind und Wellen erschaffen an der Great Ocean Road"

Südwestlich von Melbourne lockt maritime Schönheit, auch wenn frühe Segler das anders sahen. "Eine furchteinflößendere Küste habe ich selten gesehen", fand Entdecker Matthew Flinders vor gut 200 Jahren. Allerdings war er auch per Dreimaster im Sturm zwischen Riffs unterwegs. Vom Land aus wirken die Klippen weniger bedrohlich, doch selbst von hier aus leuchtet ein, dass kühn navigieren musste, wer sich den umtosten Gesteinsbrocken näherte. Die Great Ocean Road erschließt die Region auf beschaulichere Art. Durch Fischer- und Surferorte, Nationalparks und Regenwaldgebiete windet sich dieKüstenstraße zu den Zwölf Aposteln, Victorias meistfotografierten Felsen. Majestätisch ragen die Zinnen aus den Wellen. Alle paar Jahrzehnte indes kracht einer der Türme ins Meer, zu zwölft sind die Apostel längst nicht mehr. Vielleicht wirken sie deshalb weniger furchterregend als zu Flinders Zeiten.

Uluru: Rotes Leuchten zum Sonnenaufgang

"Die Landschaft definiert unsere Identität", sagte Dodson, als er 2009 "Australier des Jahres" wurde, und mahnte seine Landsleute, sich Zeit für sie zu nehmen. "Australien ist für uns oft einfach da. Doch wie viele haben das Land wirklich gesehen, haben Kakadu oder Kings Canyon erlebt?" Vom Herzen ihres Kontinents sind viele Einheimische in der Tat weit entfernt. Drei von vier Australiern trennen kaum 50 Kilometer von der Küste - natürlich weil dort das Klima moderater ist, doch nicht nur: Im Zentrum gingen Entdecker verloren und scheiterten Expeditionen, von den Wüsten jenseits der Great Dividing Range wissen viele nur aus Filmen. Dabei verpassen sie eine Menge, zum Beispiel "The Rock".

Fast jeder "kennt" Uluru, den weiße Forscher 1873 Ayers Rock nannten, jeder hat ihn auf Fotos zigmal gesehen. Umso mehr überrascht, wie beeindruckend es ist, selbst vor dem Monolithen zu stehen: Wetter und Licht spielen mit der Farbe des Sandsteins, Wolken jagen im Schattentanz über die Ebene, das rote Leuchten bei Sonnenaufgang überwältigt auch nach hundert Postkartenansichten noch. Vor 22 Jahren wurde die Region an ihre traditionellen Besitzer zurückgegeben, heute verwalten sie den Uluru-Kata-Tjuta Nationalpark gemeinsam mit der Regierung. Viele Anangu-Familien leben wieder in der Gegend, einige arbeiten als Führer und Ranger.

"Sound of Silence: Barbecue in der Dämmerung am Uluru"

Nicht weit vom "Rock" beeindrucken die Kata Tjuta, die "vielen Köpfe" der Olgas ebenso wie Kings Canyons 100 Meter hohe Wände über einem Garten aus Palmen und Farnen. Die Landschaft erinnert an Urzeiten: Nach dem Regen lässt grünes Buschland die Ocker- und Rottöne der Schluchten noch kräftiger strahlen. Eukalypten mit blitzweißen Stämmen umgeben Sandsteinplateaus, der Horizont wirkt eine Spur weiter als im Rest der Welt. In solchen Regionen spüren auch "white fellas", was die "black fellas" meinen, wenn sie von einer besonderen Verbindung zu ihrem Land sprechen.

"Begegnung mit archaischer Landschaft: Kings Canyon im Northern Territory" Bama Way: Lebendige Vergangenheit

Reich an Kontakt zum Land der Vorfahren ist auch Queenslands tropischer Norden. Südlich von Willie Gordons Zuhause verbindet der Bama Way Cairns' Küstenvororte und Cape York zu Erlebnissen mit Aborigines mehrerer Sprachgruppen. "Bama" bedeutet dort "Person", und so sind es vor allem Menschen wie Gordon, Maler Brian "Binna" Swindley in Mossman oder die Walker-Schwestern im Daintree-Regenwald, die diesen Bama-Weg lebendig werden lassen. Vor Cooya Beach ist das Wasser kaum kniehoch, Brandon Walker, ein weiterer Bama-Begleiter, hat unter saftig grünen Bäumen Speere bereitgelegt. Sein Bruder Linc watet schon weit draußen über die Sandbank. "Die Ebbe kommt schnell, mit dem Wasser verschwinden die Krebse." Urlauber lernen Bambuslanzen mit Nagelenden nach Schatten im seichten Meer zu werfen. Die Vorfahren vom Kubirri-Warra-Clan benutzten für Fisch- und Krebsfang noch Rochenspitzen, doch sonst hat sich die Jagd kaum verändert. Die Brise vom Meer lindert die Hitze des Nachmittags, gemächliches Wasserwandern unterbricht nur zuweilen ein "got you!". An Land kocht Brendans Mutter die Krebse über offenem Feuer. Begleitet vom Flöten der Regenwaldvögel sitzen Gäste und Walker Brüder auf der Veranda und diskutieren, ob Chili oder Meersalz der bessere Sud für Krebsfleisch ist. Noch vor zwei Generationen galt die Aborigine Herkunft für viele als Makel. Dass ihre Lebensweise inzwischen sogar Touristen interessiert, erfüllt heute viele indigene Australier mit Stolz, und Einkünften.

"Leuchtende Farben, klare Linien: Die Kunst der Aborigines ist längst weltweit gefragt" Im ICE-Tempo in die Smartphone-Ära

Willie Gordon, der Guugu-Yimithirr-Mann am nördlichen Ende des Bama-Weges, ist ein Meister jenes Zeitreisens, das die alte Kultur mit einer sich rasant ändernden Gegenwart verbindet. Augenzwinkernd mahnt er Besucher, die nach Integration und Zukunft fragen, zu Geduld: "Europäische Völker hatten Jahrtausende, um sich von Sammlern und Jägern zu geschäftstüchtigen Smartphone-Benutzern zu entwickeln. Wir hatten kaum 200 Jahre, dafür sind wir doch schon ziemlich gut."

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