Im Nusslocher Racket-Center arbeitet Rolf Staguhn seit 15 Jahren mit Jugendlichen, die den Traum vom Tennisprofi haben. Zwei dieser Talente sind die 16-jährigen Tim Heger und Kirill Anton. Beide haben ganz unterschiedliche Voraussetzungen.
Eine idyllische 10.000-Seelen-Gemeinde
Die
Sonne meint es gut an diesem milden Morgen und taucht die Silhouette der
10.000-Seelen-Gemeinde in goldenes Licht. Die Waggons einer Lastenseilbahn
fahren ruhig, aber beständig über die Dächer hinweg, Bewohner gehen gemächlich
ihren Besorgungen nach oder unterhalten sich angeregt über den neuesten
Klatsch, im Hintergrund plätschert ein Bach. Idyllische Dorfatmosphäre. In
Nussloch, 10 Kilometer südlich von Heidelberg an der Bergstraße gelegen, deutet
nicht viel darauf hin, dass hier großer Sport geleistet wird.
Durch die spärliche Ausschilderung nicht leicht zu entdecken, findet sich am westlichen Ortsrand ein hochmoderner Komplex, der wie ein Trugbild, zumindest aber fehl am Platz wirkt zwischen Feldern und Hundesportverein, zwischen Natur und ländlicher Gemütlichkeit. Am Eingang des Racket-Centers macht ein Anbieter für Sportreisen in einem Schaufenster deutlich, wo es hingehen soll: Melbourne, Paris, Wimbledon, New York. Drinnen eröffnet sich eine neue Welt. Alles ist dem Spiel mit Schläger und Ball untergeordnet. Squashfelder, Badmintonhalle, Fitnessstudio, Tennisshop und insgesamt acht Tennisplätze. Ein Restaurantbereich mit künstlich angelegtem Teich sorgt für Wohlfühlambiente.
Rolf Staguhn: Bundesliga verpasst,
später Weltmeister und Nachfolger von Breskvar
Die
Dame an der Rezeption greift zum Hörer: „Hier ist ein Herr, der sagt, er habe
einen Termin bei Ihnen." Wenig später begrüßt mich ein Mann mit schütterem
Haar im schwarz-roten Trainingsanzug. Sein Auftreten dynamisch, seine
Bewegungen energiegeladen. Feuer leuchtet in seinen Augen, wenn er über seinen
Lebensmittelpunkt redet. Rolf Staguhn ist Leiter der Tennisakademie
Rhein-Neckar, die er vor 15 Jahren aufgebaut hat. Fünfmal die Woche kommt der
68-Jährige um halb neun ins Racket-Center, um mit leistungsorientierten
Jugendlichen zu arbeiten. Viele von ihnen träumen davon, Profi zu werden.
Dann erzählt er von früher. Von seinen Anfangszeiten in Düsseldorf, als Tennis
ein Sport der Oberschicht war, als der Tennistrainer das Clubhaus nicht
betreten durfte, weil er den Status eines Platzwarts hatte und als nur über
bezahltes Tennis zu reden ein Affront gegen die bourgeoise
Selbstverständlichkeit war. Das änderte sich in den siebziger Jahren, die
Bundesliga wurde ins Leben gerufen. Staguhn, gerade 26, heuerte beim TC
Ladenburg an. „Verglichen mit der heutigen Zeit wäre ich ein super Talent
gewesen,“ betont er. So kam die Bundesliga etwas spät für ihn. Seine größten
Erfolge feierte er aber als Senior in den Altersklassen 35, 45, 50 und 55: Er
ist achtfacher deutscher Meister, viermaliger Europameister und Weltmeister.
Seit den achtziger Jahren ist Staguhn als Tennistrainer aktiv. Erst in
Ladenburg, dann zehn Jahre in Sindelfingen, wo er die sportliche Leitung des
größten baden-württembergischen Tennisvereins übernahm, ehe er um die
Jahrtausendwende in Nussloch landete. Boris Breskvar, langjähriger Trainer im
badischen Leistungszentrum in Leimen sowie Entdecker von Steffi Graf und Boris
Becker, verließ das Racket-Center und machte Platz für ein neues
Ausbildungszentrum. Und für Rolf Staguhn.
Der unbedingte Willen, dieses Ziel zu erreichen
Seine
Akademie bietet heute eine allumfassende Ausbildung. In der Ballschule soll der
Nachwuchs bereits im Kindergartenalter für Ballsport begeistert werden. Mit
acht landen diejenigen, die Tennis spielen wollen, im „talentino Team", wo
sie soziale Kompetenzen erlernen und mit druckreduzierten Bällen trainieren. Im
„FUTURETEAM" spielen Leistungswillige zwischen 10 und 18 Jahren. „Neben
der Leistung zeichnen einen guten Sportler Eigenschaften wie Fairness,
Widerstandsfähigkeit und Eigenverantwortlichkeit aus. Das versuchen wir den
Jugendlichen mit verschiedenen Ansätzen näherzubringen und sind damit näher
dran als ein normaler Verein" erklärt Staguhn. Um unter maximalem Druck zu
bestehen, werden den Talenten Konzentrations- und Aktivierungsübungen
vermittelt. Spiele werden mit Videos und dem Power-Control-Check ausgewertet.
Dabei wird in den Bereichen Aufschlag-, Rückschlag-, und Grundlinienspiel
erfasst, welche Schläge gut, welche weniger gut geschlagen waren und ein Profil
über Stärken und Schwächen erstellt. 50 Nachwuchsspieler betreut Staguhn im
„FUTURETEAM".
Zwei von ihnen sind Tim Heger und Kirill Anton, die gerade in der Tennishalle gemeinsam trainieren. Die Luft ist erfüllt vom dumpfen Summen der Schläger, wenn Sie auf Bälle treffen, gelegentlich begleitet von einem Stöhnen. Die beiden 16-Jährigen sind mit höchster Konzentration bei der Sache. Bei jedem verlorenen Ballwechsel hadern sie mit sich. Auch beim Training. Den Traum vom Tennisprofi immer vor Augen. Der unbedingte Willen, dieses Ziel zu erreichen, steht ihnen ins Gesicht geschrieben.
„Den Ehrgeiz habe ich von meinem Papa -
der ehrgeizigste Mensch, den ich kenne"
Vor
allem Tim ärgert sich lautstark, wenn ein Schlag ihm nicht so gelingt wie
erhofft. Als Vierjähriger begann er mit dem Tennisspielen. Seit einem Jahr ist
er im Racket-Center aktiv. Beim hauseigenen MLP-Cup ging Tim 2015 als damals
15-Jähriger an den Start. Staguhns geschultem Augen entging dessen Potential
nicht. Er machte ihm ein Angebot: „Junge, du hast Talent. Ich kann dir
weiterhelfen." Tim ließ sich nicht zweimal bitten, die Erfahrung an der
Breakpoint-Akademie im westfälischen Halle war nicht die, die er sich erhofft
hatte: Er lebte alleine, weit weg von zu Hause. Mit den Coaches überwarf er
sich. Seine Entwicklung stagnierte. Jetzt wohnt er wieder bei seinen Eltern im
20 Kilometer entfernten Östringen. Beide sind ehemalige Leistungssportler. Der
Vater Fußballer beim Karlsruher SC, die Mutter Speerwerferin in der DDR. „Das
ist ein großes Plus. Sie können mich besser verstehen als andere Eltern",
glaubt Tim. Er wirkt reif für sein Alter, fokussiert, von sich überzeugt, ohne
dabei überheblich zu sein.
„Den Ehrgeiz habe ich von meinem Papa - der ehrgeizigste Mensch, den ich kenne", erklärt er. Staguhn bescheinigt seinem Schützling für das zurückliegende Jahr eine Leistungsexplosion: „Als er hierherkam, war er auf Platz 700 der europäischen Rangliste in seiner Altersklasse, jetzt ist er auf Platz 70." Trotzdem sieht der Tennislehrer Steigerungspotential: „Sein Aufschlag ist eine Granate, muss aber kommen. Er kann gigantisch gut laufen, alle Schläge effektiv und schnell spielen, zeigt aber zu wenig Beständigkeit. Daran arbeiten wir." Dreimal die Woche trainiert Tim mehrere Stunden im Racket-Center, dienstags im Landesleistungszentrum Leimen, montags ist Schule angesagt. Von den Lehrern des Kurpfalzgymnasiums Mannheim bekommt er Aufgaben, die über die Woche zu erledigen sind. Freizeit hat er quasi nicht. Manchmal vermisse er das, was mit Freunden zu unternehmen, gibt er gequält zu, nur um dann wieder gefasst zu betonen: „Wenn man so ein Ziel hat, muss man das hinnehmen." Oder wie Staguhn sagen würde: Reaktion, auf mittlere Aktivierung kommen, Konzentration auf den Folgepunkt.
Der Weg zum Profi: Eine teurer Weg
Das
Training in der Akademie in Verbindung mit der Teilnahme an Turnieren bringt
hohe Kosten mit sich. Etwa 30.000 bis 40.000 Euro pro Jahr müssen Tim und
Kirill aufbringen. Das hat auch mit ihrer Zielsetzung zu tun, sie trainieren um
ein Vielfaches mehr als andere und haben Einzelunterricht. Staguhn sagt: „Die
Tennisfachwelt ist sich einig, dass Talente in diesem Alter 1000
Übungseinheiten pro Jahr machen sollten, um auf das Leistungsniveau der Besten
zu kommen." Während Tim Fitnessstudio und Wellnessbereich im Haus hat,
eine Mutter, die sich als Physiotherapeutin um seine Regeneration kümmert, und
über Investoren verfügt, die seine Ausbildung finanzieren, muss Kirill Anton um
seine Chance kämpfen. Die bietet sich ihm jetzt.
Anfang Februar reiste er für zehn Tage nach Minsk. Der weißrussische Tennisverband war auf ihn aufmerksam geworden und verspricht, die Akademiekosten zu übernehmen, falls er im Mai bei den weißrussischen Jugendmeisterschaften gut abschneidet. Kirill befindet sich seit zwei Jahren unter Staguhns Obhut. Er ist zurückhaltender als Tim, spricht leiser und ruhiger, aber nicht weniger bestimmt. Mit dem Druck, den er beim Turnier im Mai hat, komme er klar, versichert er: „Durch tägliches Training habe ich mir ein gewisses Selbstbewusstsein erarbeitet. Ich weiß, dass ich ihn Form bin. Zehn Minuten vorher habe ich trotzdem einen Puls von 220."
Kein neuer Tennisboom
Die Zeiten des großen Tennisbooms sind längst vorbei. Er ebbte um die Jahrtausendwende mit dem Karriereende der Lichtgestalten ab, mit denen er auch begonnen hatte: Boris Becker und Steffi Graf, die Deutschland durch ihre Erfolge in kollektive Tennisbegeisterung versetzt und den Rhein-Neckar-Kreis rund um Heidelberg zum Mekka des deutschen Tennissports gemacht hatten. „Es hat an Folgepersönlichkeiten gefehlt. Jeder halbwegs talentierte Nachwuchsspieler wurde gleich als der neue Boris Becker gefeiert. Die meisten sind an diesem Erwartungsdruck der Öffentlichkeit gescheitert", führt Staguhn aus. Ende Januar holte Angelique Kerber erstmals seit Steffi Graf 1999 wieder einen Grand-Slam-Titel nach Deutschland.
Sie gewann die Australien Open gegen die Weltranglistenerste Serena Willams. An dieses Erlebnis kann sich Staguhn noch genau erinnern, er strahlt während er davon erzählt: Das Racket-Center sei wegen des MLP-Cups gut besucht gewesen, im Laufe des Matches hätten sich dann immer mehr Menschen vor den Fernsehern eingefunden. „Das war kollektives Mitfiebern, es ist eine Einheit mit der Sportart Tennis entstanden." An einen neuen Boom will der Tennislehrer nicht glauben, dazu müsse ein solcher Erfolg wiederholbar sein. Zu viele Eintagsfliegen hat er schon gesehen. „Es ist nicht der Sonnenstrahl der den Sommer macht", philosophiert er schmunzelnd.
Positive Effekte durch Kerber Sieg
Positive Auswirkungen habe der Erfolg trotzdem. Die Mädchen aus seiner Akademie würden sich Angelique Kerber als Vorbild nehmen, als Beweis, dass Träume realisiert werden können. Tim und Kirill können dem Sieg nicht so viel abgewinnen. Während Kirill findet, dass Frauentennis ein Glücksspiel sei, glaubt Tim, dass man es mit Männertennis nicht vergleichen könne. Vorbilder sind andere: Der Schweizer Roger Federer und der Spanier Rafael Nadal. Wie geht es weiter für die beiden? Bei Kirill hängt viel davon ab, ob er seine Chance in Weißrussland nutzt. Tim hat sich vorgenommen, in diesem Jahr unter die Weltbesten 100 bis 200 der unter 18-Jährigen zu kommen und sich für die Junior-Grand-Slams 2017 zu qualifizieren. Melbourne, Paris, Wimbledon, New York. Spätestens dann könnte der Traum Tennisprofi nur noch wenige Aufschläge weit entfernt sein. Es ganz nach oben zu schaffen, habe aber viel auch mit glücklicher Fügung zu tun, glaubt Staguhn und kommt mit einer nicht gerade Mut machenden Zahl um die Ecke: „Die zehn besten unter 18-Jährigen haben eine zehnprozentige Chance einmal unterdie Top Ten der Welt zu kommen.“ Er selbst hat im Racket-Center sein zweites Zuhause gefunden, die Tätigkeit sei einefinale Abrundung seiner Karriere, gesteht er. Er werde auf Bitten seiner Frau zukünftig kürzertreten und mehr Zeit mit ihr auf dem Golfplatz verbringen. Aufhören komme dagegen nicht infrage. Dazu liegen ihm die Jugendlichen zu sehr am Herzen. Und der Tennissport, ohne den in seinem Leben etwas fehlen würde. Ganz bestimmt.
Eine Reportage von Julian Budjan
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