Julian Bernstein

Korrespondent, Kanada (Montréal)

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Mit Dolch und Turban

Jagmeet Singh wird in Kanada bald eine entscheidende Rolle spielen, wenn er Premier Trudeau zur Seite steht


Von Julian Bernstein, Montréal


Es war ausgerechnet ein rassistischer Vorfall, der Jagmeet Singh kanadaweit bekannt machte. Vor rund zwei Jahren befand sich Singh im Wahlkampf um den Vorsitz der Neuen Demokratischen Partei (NDP). Singh, gelernter Strafverteidiger und seinerzeit Abgeordneter der sozialdemokratischen NDP in der Provinz Ontario, war als Politiker bis dahin nicht groß in Erscheinung getreten. Das änderte sich schlagartig am 6. September 2017. Auf einer Veranstaltung stürmte eine sichtbar aufgebachte Frau auf ihn zu. Sie warf ihm unter anderem lautstark vor, die Sharia einführen zu wollen. Singh, offensichtlich kein Moslem, sondern ein Anhänger der Sikh-Religion, reagierte cool. „Wir heißen dich willkommen“, rief er der Frau entwaffnend zu. Ein Video des Vorfalls ging innerhalb kürzester Zeit viral und löste eine landesweite Debatte über Rassismus aus. Singhs ungewöhnliche Reaktion wurde weltweit gefeiert, er gewann die Wahl zum Vorsitz der NDP und avancierte schnell zu so etwas wie dem Posterboy des kanadischen Multikulturalismus. Alle wichtigen kanadischen Medien haben dem „politischen Superstar“ (Toronto Life) seither große Porträts gewidmet. Der Sohn indischer Einwanderer hat es damit nicht nur als erster Angehöriger einer Minderheit in Kanada zum Parteivorsitzenden gebracht. Er hat es verstanden, seinen Minoritätenstatus in politisches Kapital unzuwandeln. Waren die von Singh getragenen Erkennungszeichen orthodoxer Sikhs – Turban, Rauschebart und der traditionelle Dolch – vor einigen Jahren in Kanada noch ein Wahlhindernis, lässt sich mit ihnen heute durchaus Politik machen. Singhs Erfolgsrezept basiert darauf, sich den zahlenmäßig immer bedeutenderen „sichtbaren Minderheiten“ als authentischer Fürsprecher anzubieten.

Als NDP-Vorsitzender könnte er nun ab dem 5. Dezember, wenn das neugewählte kanadische Parlament zum ersten Mal zusammentritt, eine wichtige Rolle spielen. Der amtierende Premierminister Justin Trudeau und seine Liberale Partei haben die absolute Mehrheit im Abgeordnetenhaus knapp verpasst. Die von Trudeaus angestrebte Minderheitsregierung wird daher auf die Zusammenarbeit mit kleineren Parteien angewiesen sein. Singh könnte Trudeau von links unter Druck setzen und einige seiner Wahlversprechen umsetzen, darunter etwa die Einführung einer staatlichen Kostenerstattung für Medikamente und eine Verbesserung der Lebensbedingungen der indigenen Bevölkerung Kanadas.

Ob Singh das wirklich gelingt, ist jedoch unklar. Sein progressives Image seit seinem Amtsantritt als Parteivorsitzender gelitten. Seine Kritiker werfen ihm vor, er wolle die kanadische Politik „ethnisieren“. Die erfolgreiche Wahl zum Parteivorsitzenden habe er unter anderem der Tatsache zu verdanken, dass es ihm gelang, innerhalb der Sikh-Gemeinde rund 10.000 neue NDP-Mitglieder zu werben. Und wegen ethnischer Bande dürften sie größtenteils für Singh gestimmt haben. Die Kolumnistin Margaret Wente warf ihm in Kanadas größter Tageszeitung The Globe and Mail zudem vor, „bis zum Hals in den ethno-nationalistischen Konflikten“ des Heimatlandes seiner Eltern zu stecken. Gemeint ist die Unabhängigkeitsbewegung im indischen Punjab, die in der Sikh-Gemeinde in Kanada traditionell viele Anhänger hat. Vor allem in den 1980er Jahren kämpften radikale Sikhs dafür, eine von Indien unabhängige Theokratie namens Khalistan zu errichten. Auf das Konto extremistischer Sikhs gingen im Namen dieser Vision zahlreiche Terroranschläge. Unter anderem verantworten sie das Attentat auf den Air-India-Flug 182 von Montréal nach London im Jahr 1985, der 329 Tote zur Folge hatte – die meisten kanadische Staatsbürger. Als Singh in einem Interview mit dem staatlichen Fernsehsender CBC anlässlich seiner Wahl zum Parteivorsitzenden auf das Attentat angesprochen wurde, reagierte er ausweichend. Trotz etlicher Nachfragen, blieb er dabei bei der Aussage, nicht zu wissen, wer für den Anschlag auf den Air-India-Flug verantwortlich sei. Er sei jedoch allgemein gegen Gewalt. Seinen Beliebtheitswerten verpasste der verstörende Auftritt einen ersten Dämpfer. Monate später geriet Singh erneut in die Kritik, als bekannt wurde, dass er im Jahr 2015 in San Francisco als Redner auf einer Demonstration zu Ehren des militanten Khalistan-Märtyrers Jarnail Bhindranwales aufgetreten war. Bhindranwale und sein Umfeld sollen für zahlreiche terroristische Morde in den 1970er und 1980er Jahren verantwortlich sein.

Im kanadischen Wahlkampf spielten die zweifelhaften politischen Aktivitäten Singhs jedoch kaum eine Rolle. Neben Singhs wiederholter Distanzierung von Gewalt dürfte ihm dabei geholfen haben, dass er Kritik an seinem fragwürdigen Verhältnis zur extremistischen Khalistan-Bewegung geschickt in die Nähe des Rassismus rückte. Die kritischen Fragen an ihn hätten einen „klar problematischen Hintergrund“, ließ er verlauten. Unterstützt wurde Singh dabei unter anderem von diversen Journalisten und dem damaligen Geschäftsführer der Welt-Sikh-Organisation, der die Fragen der CBC als „bigott“ und „rassistisch“ brandmarkte.

Auch die anderen Parteien hielten im Wahlkampf still. Denn mit der fast 500.000 Menschen umfassenden, vor allem in Ontario lebenden kanadischen Sikh-Gemeinde will es sich aus Angst vor dem Verlust von Wählerstimmen kaum jemand verscherzen. Am wenigsten dürfte das Thema die anstehende Zusammenarbeit mit Justin Trudeau belasten. Denn der Premier geriet auf einer Indienreise im vorigen Jahr selbst in die Kritik. Zu einem Empfang hatte die kanadische Delegation den prominenten und in Kanada ansässigen Khalistan-Aktivisten Jaspal Atwal eingeladen. Atwal werden mehrere Attentate zur Last gelegt, darunter ein Mordversuch an einem indischen Politiker im Jahr 1986.



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