Julian Bernstein

Korrespondent, Kanada (Montréal)

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Keine Turbane für Polizisten

Die kanadische Provinz Quebec plant derzeit als einzige Region Nordamerikas ein Laizitätsgesetz - die Proteste dagegen sind massiv.


Staatsbedienstete mit religiösen Kopfbedeckungen gehören in nordamerikanischen Grossstädten mehr und mehr zum Alltag. So vertritt bei der New Yorker Polizei eine eigene Organisation die Belange der rund 160 Anhänger der Sikh-Religion. Seit 2016 dürfen Sikhs im Polizeidienst Turbane tragen, die farblich auf die blauen Uniformen abgestimmt sind. Besonders tolerant gegenüber seinen religiösen Minderheiten zeigt sich traditionell Kanada. Hier trägt selbst der amtierende Verteidigungsminister Harjit Singh Sajjan einen Turban, ohne dass dies bislang zu nennenswerter Kritik geführt hätte. Umso irritierter blicken viele in Nordamerika derzeit auf die frankophone kanadische Provinz Québec. Die konservative Regierungspartei Coalition Avenir Québec (CAQ), die im Parlament der Provinz, der Nationalversammlung, die absolute Mehrheit besitzt, möchte künftig per Gesetz einem Teil der staatlichen Angestellten das Tragen religiöser Symbole verbieten – ein Vorhaben, das in den vergangenen Wochen große Proteste nach sich gezogen hat.

Der kanadische Premierminister Justin Trudeau bezeichnete das Gesetz, das bis zum 14. Juni verabschiedet werden soll, als «diskriminierend» und im multikulturellen Kanada «undenkbar». Der Bürgermeister von Calgary, Naheed Nenshi, forderte die betroffenen Minderheiten in Québec auf, in die Provinz Alberta überzusiedeln. Besonders hartnäckig sind die Proteste im sprachlich geteilten Montréal, der mit rund zwei Millionen Einwohnern grössten Stadt Québecs. Die frankophone Mehrheitsgesellschaft der Provinz unterstützt die Gesetzesinitiative mehrheitlich. Aber Montréal ist eine Hochburg selbstbewusster Minderheiten. Die hier lebenden Juden, Sikhs, Muslime und anglophone Québecer lehnen das neue Gesetz grösstenteils ab. So erklärte der orthodoxe Rabbiner Reuben Poupko als Co-Vorsitzender des «Centre for Israel and Jewish Affairs in Québec» dem Tablet Magazine, die rund 90 000 Menschen zählende jüdische Gemeinde Montréals werde das Gesetz energisch bekämpfen. William Steinberg, der Bürgermeister des jüdisch geprägten Hampstead, einer in Montréal liegenden formal eigenständigen Gemeinde, sprach gar von «ethnischer Säuberung» – eine Äusserung, die er nach Kritik von allen Seiten wieder zurücknehmen musste.

François Legault, der Premierminister Québecs, betonte derweil den «moderaten» Charakter des Gesetzes. Im Vergleich etwa zu Frankreich mag dies zutreffen. Dort dürfen selbst Schülerinnen und Schüler keine auffällig religiöse Kleidung tragen. Das Gesetz der CAQ zielt lediglich auf Staatsbedienstete und darunter auch nur diejenigen, die laut Provinzregierung Machtbefugnisse besitzen. Die Regierung zählt dazu unter anderem Polizisten, Staatsanwälte und Lehrer an staatlichen Schulen. Professoren, Erzieher, medizinisches Personal und Lehrer an den zahlreichen Privatschulen Québecs sind hingegen nicht betroffen. Zudem besagt eine Klausel, dass Angestellte, die sich bereits vor Verabschiedung des Gesetzes im Staatsdienst befinden, ihre religiösen Symbole vorerst weiter tragen dürfen.

 Dennoch empfinden viele Kanadier das Vorhaben als einen frontalen Angriff auf die nationale Identität. Mit der aktiven Förderung seiner unterschiedlichen Kulturen ist Kanada so weit gegangen wie sonst kaum ein anderes demokratisches Land. Der Multikulturalismus ist seit dem Jahr 1982 in der kanadischen Verfassung verankert. Dem Ideal des sogenannten kulturellen Mosaiks, das die unterschiedlichen Kulturen innerhalb des Landes ausdrücklich bewahren will, steht man in Québec jedoch seit jeher skeptisch gegenüber. Als einzige der zehn Provinzen Kanadas hat Québec die Verfassung nie ratifiziert. Die Provinz verfolgt stattdessen eine Politik des «Melting Pots», in der unterschiedliche Kulturen zwar akzeptiert werden, sich jedoch dem Primat der französischen Sprache unterordnen müssen. Dies hat der Provinz einerseits die Bewahrung ihrer traditionellen Identität ermöglicht, andererseits aber zu massiven Spannungen mit der anglophonen Minderheit geführt. Nach der Einführung rigider Sprachgesetze und im Zuge der knapp gescheiterten Unabhängigkeitsreferenden von 1980 und 1995 haben 250.000 englischsprachige Québecer die Provinz verlassen – darunter mehrere tausend Juden.

Minderheiten haben in Québec ohnehin einen schwierigeren Stand als in anderswo in Kanada. Umfragen weisen für Québec regelmässig die landesweit höchste Quote antisemitischer und islamfeindlicher Einstellungen nach. Zudem werden in Québec kulturelle Konflikte von der französischsprachigen Medienlandschaft offensiv thematisiert. Als Auslöser der langjährigen Debatte über Laizität gelten unter anderem Konflikte mit der ultraorthodoxen jüdischen Gemeinde Montréals. Mitglieder der chassidischen Community «Yetev Lev» störten sich im Jahr 2006 an dem Schaufenster eines Montrealer Fitnessstudios. Der Anblick von Frauen in Sportkleidung sei für Juden unangemessen, kritisierte die Gemeinde, worauf die Fenster verhüllt wurden. Im gleichen Jahr erlaubte ein Gericht einem jungen Sikh, seinen traditionellen Dolch auch in der Schule zu tragen. Beide Begebenheiten schafften es schnell auf die Titelseiten der Lokalpresse und lösten eine Debatte über das Verhältnis der Québecer Mehrheitsgesellschaft zu religiösen Minderheiten aus – in einer für Kanada ungewohnten Schärfe.

Die Provinzregierung setzte daraufhin eine Kommission ein, die Vorschläge für ein klarer geregeltes Zusammenleben der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen erarbeiten sollte. Der Kommission gehörte der Philosoph und Theoretiker des Multikulturalismus Charles Taylor an. Im Gespräch mit tachles erklärt Taylor das spannungsreiche Verhältnis Québecs zu seinen Minderheiten mit dem speziellen Status der Provinz als einziger Region Nordamerikas, in der bis heute mehrheitlich Französisch gesprochen wird: Québec sei wie «eine Insel in einem riesigen anglophonen Meer». Diese führe verständlicherweise zu Ängsten vor dem Verlust der eigenen Identität. Zudem beeinflusse die antireligiöse Grundeinstellung vieler frankophoner Québecer das geplante Laizitätsgesetz. Dies wiederum ist eine Reaktion auf den einst übermächtigen Einfluss der Katholischen Kirche in Québec. Davon befreite sich die Provinz erst in den 1960er Jahren. Seither gilt Québec als eine der Regionen Nordamerikas mit dem geringsten kirchlichen Organisationsgrad. Das Gesetz richte sich laut Taylor jedoch nicht gegen alle Religionen gleichermassen, sondern in erster Linie gegen die wachsende muslimische Gemeinde Québecs. Der Regierung wirft er vor, mit dem geplanten Gesetz auch ihre rechte Klientel bedienen zu wollen.

Ähnlich argumentieren Montréals progressive Bürgermeisterin Valérie Plante und der aus dem jüdisch-orthodoxen Milieu stammende Lionel Perez von der moderat-konservativen Oppositionspartei «Ensemble Montréal». Im Gespräch mit tachles bezeichnet es Perez als «unfassbare» Unterstellung, dass Menschen, die religiöse Symbole tragen, als Staatsangestellte nicht neutral handeln könnten: «Niemand sollte zu einer Entscheidung gezwungen werden, entweder für den Staat zu arbeiten oder religiöse Kleidung zu tragen.» Das Gesetz der CAQ schaffe zwei Klassen von Bürgern. Perez selbst trägt im Alltag die Kippa. Er fordert für Montréal einen Sonderstatus, der auf die multikulturelle Tradition der Stadt Rücksicht nimmt. Dass die Regierung von Québec darauf eingeht, erscheint momentan jedoch als unwahrscheinlich.











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