Dabei hätten sich ein paar Themen durchaus aufgedrängt, über die es gut getan hätte, zu reden: Die seit sieben Wochen andauernde französische Regierungskrise infolge der Gilets-Jaunes-Proteste. Der sich mit Jahresende klar abzeichnende politische Stillstand in der EU als direkte Reaktion auf den näherrückenden Wahlkampf. Das penetrant feuchte, kalte, miese Wetter in den Vogesen. Oder, wenn auch das zu keinem Schreibimpuls gereicht hätte, das klassische Weihnachtstourismusshaming. Etwas, das sich hier in Straßburg, Hauptstadt der Vorweihnachtswunderlichkeit, besonders audfrängt.
Doch über all das hatte ich keine Lust zu reden. Jeglicher Schreibimpuls war gehemmt. Ein terroristisches Attentat auf eben jenen Weihnachtsmarkt, das fünf Menschenleben forderte und die Elsassmetropole von jetzt auf gleich für immer veränderte, hinderte mich daran, mich über dies und jenes aufzuregen und es aufzuschreiben. Und zu dem, was eigentlich passiert war, fehlten mir die Worte. Es fiel mir einfach nichts ein, das nicht andernorts bereits viel eindrücklicher, passender oder würdevoller gesagt worden war. Zu abgedroschen, zu banal, zu oft gehört wäre alles gewesen, das ich dazu hätte sagen können.
Nur aus der FerneAn jenem Abend, an dem Cheriff Chekatt beschloss der Weihnachtshauptstadt die Seele zu rauben, indem er begann, vor der blauen Haustür meiner Wohnung in der Rue de l'Ail, in jenen Gassen, durch die ich tags zuvor noch schlenderte, Menschen in den Kopf zu schießen, war ich nicht da. Durch puren Zufall, oder Schicksal - was von beiden genau, kann ich nicht beantworten - war ich am Vorabend nach Wien geflogen. Meine letzte Prüfung an der Uni und die "Presse"-Weihnachtsfeier waren es, die mich dazu veranlassten. Und die mir, dramatisch formuliert, damit vielleicht das Leben retteten.
Als viele meiner Kollegen in Straßburg eine lange, bedrückende Nacht im EU-Parlament verbrachten, meine Mitbewohner in unserer Wohnung ausharrten, während sie Menschen, die in Panik um ihr Leben rannten, aus dem Fenster zuriefen, sich in Sicherheit zu bringen, und als österreichische Journalisten-Kollegen, die für die EU-Plenarwoche nach Straßburg gereist waren, hautnah erlebten, wie Menschen neben ihnen sterben, war ich nicht da. Im Bewusstsein dieser Tatsache war ich danach der Meinung, das Recht auf jeglichen Kommentar verloren zu haben.
Eine Kollegin hatte an jenem Abend in unseren Trainee-Whatsapp-Chat geschrieben, wir sollen uns in Sicherheit bringen. Irgendwas sei los in der Innenstadt, angeblich Schüsse. Ein schlechter Scherz, mein erster Gedanke. In Sicherheit? Das war ich bereits. Auf der Couch, 800 km entfernt. Twitter bestätigte den Verdacht. Dort sah ich erste Videos und Fotos, später erschien "Attentat in Straßburg" in den Headlines der ZIB 2 und im ORF-Teletext. Ich kam mir vor wie ein Zuschauer eines schlechten, sehr schlechten Films. Doch dieser war live, echt und passierte dort, wo ich 48 Stunden zuvor noch einkaufen gegangen war. Nur aus der Ferne bekam ich mit, wie jene Stadt, in der ich seit drei Monaten lebte, ihrer vorweihnachtlichen Wunderlichkeit beraubt wurde, ihrer Unschuld, ihrer Beschaulichkeit. Über Nacht wurde Straßburg in das Zentrum internationaler Medienöffentlichkeit manövriert. Und ich war nicht da.
Dass ich nicht berechtigt war, das alles zu kommentieren, schienen andere ähnlich zu sehen. Auf ein Twitter-Posting, indem ich meine Betroffenheit zum Ausdruck brachte, schrieb ein User darunter: "Versuchs mal mit psychologischer Unterstützung statt mit Twitter!" Offensichtlich hatte ich das Recht, betroffen zu sein, ohne wirklich betroffen zu sein, verwirkt. Umso schwerer fiel es mir, in diese Stadt zurückzukehren. Erst zwei Tage später kam ich zurück. Der Weg von Wien nach Basel war eine Überwindung. Im Regionalzug von Basel nach Strasbourg Gare Centrale verstärkte sich das mulmige Gefühl in meinem Bauch. Einzelne Blicke huschten durch das Abteil. Hast du Angst? schienen sie sich gegenseitig zu fragen. Ja, die hatte ich. Vor allem davor, von nun an nur noch Angst zu haben.
Alltag über allesDass sich was verändert hatte, war mit freiem Auge zu erkennen. Am Weg in die Arbeit sah ich die Fahnen, die Tricolore und auch die europäische, die allesamt auf Halbmast hingen, an allen öffentlichen Gebäuden der Stadt. Bei diesem Anblick schossen mir erstmals Tränen in die Augen. Die Innenstadt war wie ausgestorben, Restaurants und Bars menschenleer. Übertragungswägen von ARD und ZDF säumten den Pont du Courbeau, eine jener Brücken, über die ich jeden Tag mit dem Rad zu meiner Wohnung fahre, auf die kleine Insel in der Ill, wo sich der mittelalterliche Stadtkern befindet. Über diese war auch der Attentäter Chekatt in das Zentrum gegangen, vorbei an den zahlreichen Securites, die dort seit Ende November die Taschen der Besucher kontrollierten.
Die Hütten am Weihnachtsmarkt an der Place Gutenberg waren geschlossen, die Weihnachtsbeleuchtung aus Respekt vor den Opfern ausgeschaltet. Die Place Kléber, an der Präsident Emmanuel Macron am selben Tag eine weiße Rose niederlegte, war dunkel. Nur das Lichtermeer aus Kerzen war von weitem zu erkennen. Beim Anblick der einzelnen Tatorte, deren Meer aus Blumen und Kerzen die unmittelbare Umgebung meiner Wohnung seither säumen, begann ich los zu heulen. Wieso durfte ich "nicht hier sein", als es passierte?
Eine Frage, die ich mir seither nicht wieder gestellt habe.
Denn wie an so vielen anderen Orten zuvor kehrte auch in Straßburg schnell wieder das "normale", vorweihnachtlich-gestresste Leben ein. Die Weihachtsmärkte öffneten wieder, Touristen tranken Glühwein und shoppten sich durch die Gassen, an den Blumen und Kerzen hielten sie für ein paar Fotos inne. Trauer und Schmerz wurden vom Duft von Gewürzbrot und Sauerkraut überdeckt.
Und jetzt, nach zwei erholsamen, sorglosen Wochen Weihnachtsurlaub in Österreich, ist das alles Schnee von gestern. Der Bedarf, dazu noch etwas zu sagen, überschaubar. Man kommt hierher zurück, fährt in die Arbeit, geht einkaufen. Alltag macht sich breit. Der Weihnachtsmarkt ist geschlossen, das Meer aus Kerzen kleiner, die Stille wieder lauter. Die Beleuchtung, die die Fachwerkhäuser ziert, wird bald ausgeschaltet und weggeräumt - wie unsere Erinnerung daran.
Dennoch wundert es einen, hin und wieder. Dass wir immer wieder weitermachen, wie bisher. Und manchmal auch einfach nicht in Worte fassen können, wieso.