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Feature

Ein Fischerdorf in Norwegen erfindet sich neu

Es hätte alles so schön sein können, und jetzt sind die verdammten Sachen verschwunden. Bent kratzt sich den weißen Vollbart und schaut sich auf der Terrasse um. Hinter ihm breitet sich die ochsenblutrote Fassade des Gästehauses aus, und vor ihm liegt das Meer ruhig in der Bucht. Die Möwen kreischen, als würden sie ihn auslachen. Aber er ist sich sicher: Der Stuhl stand hier, direkt neben dem Tisch. Nicht zum ersten Mal fehlt etwas. Es wundert ihn nicht, dass sie ihn beklaut haben. Er war hier nie wirklich willkommen.

Ein Gästehaus zu besitzen, war lange Bents Traum, bis er das perfekte Grundstück in Råkvåg gefunden hat. Er hat gewartet, bis seine Söhne erwachsen waren, um endlich rauszukommen aus der Stadt. In Trondheim hat er als Krankenpfleger in einer Anstalt für psychisch kranke Straftäter gearbeitet. Noch heute trägt er einen dicken Schlüsselbund an seiner Jeans. Manchmal erschrickt der 60-Jährige, weil er eine Tür hinter sich nicht abgesperrt hat. Dann fällt ihm ein, dass es jetzt nicht mehr wichtig ist. Wenn er auf das Meer vor seiner Haustür blickt, scheint Trondheim Tausende Kilometer entfernt, obwohl es nur zwei Autostunden sind.

Råkvåg liegt an einem Fjord in der Region Trøndelag an der zerklüfteten Küste Mittelnorwegens. Am geschwungenen Ufer reihen sich bunte Hausfassaden aneinander – in Gelb, Rot und Braun. Sie stehen auf Holzstelzen im salzigen Wasser. Durch den Ort führt eine kleine Flaniermeile. Dort gibt es zwei Cafés, ein Fischerei-Museum und zwei Galerien. Die Besucher kommen vom Wasser. Sie klettern von ihren Segelbooten und laufen einen der schmalen Stege entlang zum Ufer.

Nachfahren der Fischer haben Ort wiederbelebt

Im Museum sitzt ein junges Mädchen an der Kasse. „Meine Familie ist gerade erst hierher gezogen“, sagt sie. „Seit der Ort wieder floriert, kommen viele zurück.“ Råkvåg sei nicht immer so schön gewesen wie heute. Es habe eine Zeit gegeben, in der die Häuser verfielen, die Straßen wie leergefegt waren, und die Menschen fluchtartig nach Trondheim zogen. Dieses Schicksal teilt der Ort mit vielen anderen kleinen Dörfern an der Küste Norwegens. Als sich die traditionelle Fischerei im Laufe der 1970er-Jahre immer weniger lohnte, verloren die Menschen ihre Haupteinnahmequelle. Zur selben Zeit wurde das Öl in der Nordsee entdeckt. Viele witterten andernorts das große Geld und gingen.

„Dass Råkvåg heute wieder strahlt, haben wir gemeinsam geschafft“, sagt Gro Vorpvik. Vom Eingang des Museums führt eine knarrende Holztreppe in ihr Reich aus getöpferten Figuren und gemalten Sonnenuntergängen. Die Galerie-Besitzerin ist eine freundliche Frau mit Kurzhaarschnitt und bunten Kleidern. Bis vor kurzem hat sie als Kindergärtnerin in Trondheim gearbeitet, jetzt lebt sie wieder in ihrem Heimatort. Neben der Galerie kümmert sie sich noch um ein altes Haus, in dem Künstler auf der Durchreise übernachten können. „Jeder hat hier seine Aufgaben“, sagt sie. Wie Gro leben die meisten der knapp 300 Einwohner seit mehreren Generationen hier. Viele sind Nachfahren der Fischer, die das Dorf einst gegründet haben. In den 1980er-Jahren begannen sie, die heruntergekommenen Fischerhütten zu renovieren. Die norwegische Regierung gab ihnen dafür Geld. Jetzt betreiben sie das Museum, Galerien und Cafés. Viele haben einen anderen Beruf und engagieren sich nebenbei für den Tourismus.

Bent Brønner ist erst vor drei Jahren hierher gezogen – das unterscheidet ihn von den anderen Bewohnern von Råkvåg. Und er kommt aus der Stadt. Er glaubt, das ist ein Grund, warum er hier nicht viele Freunde gefunden hat. Sein Gästehaus ist vom Fenster der Galerie aus zu sehen. Dazwischen liegt der Hafen, der jetzt auch ihm gehört. Er hat ihn zusammen mit zwei Häusern und ein paar umliegenden Schuppen gekauft. Er musste nicht viel ändern, alles war gut in Schuss. Sogar die Einrichtung für das Restaurant und die Gästezimmer unter dem Dach konnte er vom Vorbesitzer übernehmen. Nur die Miete für Liegeplätze im Hafen hat er erhöht – auch für Einheimische. Das hat viele verärgert. Geschäft ist Geschäft, meint Bent, auch wenn das nicht jedem passt. „Manche wollten anfangs nicht zahlen“, sagt er. Ein Nachbar weigert sich bis heute.

Aber darüber will Bent gar nicht lange reden. Sein Gästehaus läuft gut, das ist die Hauptsache. Er führt es gemeinsam mit seiner schönen Frau Rita. Sie macht am Morgen das Frühstück, während Bent noch schläft. Er organisiert Angelausflüge und Musik-Workshops. An den Wochenenden spielen Bands. Die Musiker sitzen oft bis spät in die Nacht zusammen. Während die Mitternachtssonne durch die Fenster scheint, serviert Rita dampfende Schüsseln voll Muscheln und frischem Fisch. An den Wänden hängen alte Fotos von Schiffen. Bent liebt es, hier zu leben – trotz mancher Unstimmigkeiten. Deshalb bleibt er gelassen. Einmal hat er von einem Bekannten einen Hinweis darauf bekommen, wo die Möbel von der Terrasse sein könnten. Aber er wollte sich nicht streiten und ließ die Sache auf sich beruhen.

Zumindest den Pragmatismus teilt Bent mit den anderen Bewohnern von Råkvåg. Hier macht man das Beste aus dem, was man hat – sowie Karl und Harald. Auch sie tragen etwas dazu bei, das Dorf für Touristen attraktiver zu machen. Die beiden wollen ein neues Fischerei-Museum eröffnen. Ein Kiesweg führt die Männer zu einem verfallenen Haus direkt am Wasser. Gemeinsam stemmen sie eine Holztür auf. Staub wirbelt durch das einfallende Licht. Drinnen steht ein altes Boot aus Holz inmitten von Gerümpel. „In Råkvåg ist alles Low-Budget“, sagt Karl und lacht. „Wir richten alles ohne viel Geld und aus eigener Kraft wieder her.“

Deutsche Angler bleiben unter sich

Harald zieht eine alte Holzspule unter einem Brett hervor. Daran ist ein langer Draht befestigt. „Damit haben wir damals gemessen, wie tief die Fische schwimmen“, sagt er zu Karl, und seine Augen leuchten bei der Erinnerung an alte Zeiten. Harald Sommerseth ist 81 Jahre alt und der letzte echte Fischer im Dorf. Mit 15 Jahren war er zum ersten Mal drei Monate lang auf dem Meer unterwegs. Auf einem Schiff, das jedes Jahr im Januar in der Bucht von Råkvåg ablegte, um zu den 550 Kilometer weit entfernten Lofoten zu fahren. Im Winter ziehen Dorsche in großen Schwärmen an der Inselgruppe vorbei. Für Harald war es das Abenteuer seines Lebens. Jetzt erzählt er Touristen bei Führungen durch den Ort davon.

Heute fischt in Råkvåg niemand mehr, um Geld zu verdienen. Aber man präsentiert sich den Besuchern als historisches Fischerdorf. Und der Angeltourismus boomt. Wenige Kilometer vom Ortszentrum entfernt hat sich eine kleine Enklave gebildet: ein Campingplatz, der von deutschen Hobby-Anglern bewohnt wird. Als der Betreiber vor einigen Jahren von einem Tourist erfahren hat, dass Deutsche gerne angeln, hatte er eine Idee: Er ist zu einer Anglermesse nach Köln gefahren und hat dort bunte Prospekte verteilt. Seitdem kann er sich vor Buchungen kaum retten. „Die Perle Norwegens“ steht auf einem Schild am Eingang. Dahinter stehen graue Campinghütten, in immer gleichen Abständen.

Auf einer Terrasse steht Rita Bierwisch aus Thüringen. Sie hält eine Tasse Kaffee in der Hand und blickt auf das Meer. Irgendwo da draußen lässt vermutlich gerade ihr Mann Oscar eine Angelschnur ins Wasser. Rita bleibt lieber an Land. Hier hat sie alles, was sie braucht: Terrasse, Bad und eine kleine Küche, in der sie den frisch gefangenen Fisch zubereiten kann.
Urlaub macht sie eigentlich trotzdem lieber in Italien, aber wie jedes Jahr hat sie mit Oscar einen Kompromiss geschlossen: Zwei Wochen verbringen sie in Norwegen und zwei am Gardasee.

Draußen auf dem Meer sitzt auch Bent auf seinem Boot und bewegt die Angelrute auf und ab. An der Schnur taucht ein gelbes Fähnchen aus dem Wasser auf und versinkt wieder. Er blickt missmutig auf die Wasseroberfläche. Die Lachse beißen nicht, obwohl sich Tausende unter der Wasseroberfläche versammelt haben. Sie warten im Flussdelta, bis sie stromaufwärts schwimmen können. Am Horizont, wo das Meer die bewaldeten Hügel berührt, stößt ein Seeadler steil in die Luft, um nach Beute Ausschau zu halten.

Übernachten in der wilden Natur

Der 60-Jährige ist gerne hier draußen, noch ein bisschen weiter entfernt von der Stadt. Manchmal holen ihn die Gedanken trotzdem ein – an seine frühere Arbeit in der Anstalt oder an seinen Sohn, der als kleiner Junge gestorben ist. Meistens schmiedet Bent aber Pläne für sein Gästehaus. Am bewaldeten Ufer will er Übernachtungen für seine Gäste anbieten. Es gibt ein paar Holzhütten, die man nur vom Wasser aus erreichen kann. Davor liegt ein kleiner Steg, an dem er sie mit einem Boot absetzen könnte.

Bent nippt an einem Dosenbier. Er stellt es zur Seite und wischt die Finger an seiner Daunenjacke ab. Der Motor spuckt Wasser, als er ihn anlässt. Auf dem Rückweg kommt er an einer Gruppe deutscher Angler vorbei. In roten Windjacken stehen sie an Deck und grüßen. „Habt ihr was gefangen?“, ruft Bent ihnen zu. „Jede Menge“, sagen sie und fahren weiter.

Bis auf solche Begegnungen am Meer bekommen die deutschen Touristen nicht viel mit von
Råkvåg. Spricht man sie auf das Gästehaus und die Flaniermeile an, haben die meisten noch nie davon gehört. Ihr Sehnsuchtsort ist das Meer. Da die Sonne hier im Sommer nie untergeht, können sie viele Stunden draußen bleiben. Am Abend schleppen sie kiloweise Fisch ans Land und verstauen ihn in Kühltruhen.

Als Bent seine Angelausrüstung ins Haus trägt, kommt Besuch. Ein Mann tritt durch die Terrassentür und wedelt mit einigen Blättern. Es ist der Vertrag für seinen Liegeplatz in Bents Hafen, für den er bisher nicht zahlen wollte. Die Männer setzen sich an einen Tisch und blättern die Seiten durch. Sie diskutieren auf Norwegisch. Schließlich setzt der Besucher schwungvoll seine Unterschrift unter den Text. Zum Abschied klopft er Bent auf die Schulter.