Ein Gongschlag erklingt, leises Stimmengewirr dringt in die Kopfhörer. „Wir starten unseren Spaziergang von einem der Mittelpunkte der Essener Kultur, dem Grillo-Theater - und zwar vom Haupteingang. Mit Blickrichtung zur Kettwiger Straße geht es los", sagt eine junge weibliche Stimme. So beginnt der Hörspaziergang, ein Projekt vom Schauspiel Essen, durchgeführt vom StadtEnsemble „Die Interzonen".
In dieser Gruppe kommen Menschen aus allen Lebensbereichen im Alter von 16 bis 99 Jahren zusammen. Die Hörbeiträge können auf der Homepage zur Aktion oder bequem über eine App abgerufen werden. Die Arbeit zum Projekt begann im letzten Sommer. „Uns war nach der ersten Welle klar, dass wir ein Theater-Format finden müssen, das notfalls auch im Lockdown stattfinden und auf keinen Fall abgesagt werden kann", erklärt Miriam Michel, Performerin und Projektleiterin aus Bochum. Sie ist bereits erfahren mit auditiven Formaten und kam auf die Idee für den Hörspaziergang.
Dieser führt durch die gesamte Innenstadt, bis über den Hauptbahnhof hinaus zum Isenbergplatz im Essener Süden. So kann man vermeintlich vertraute Ecken neu erkunden, zum Beispiel bei einem Abendspaziergang. Dann startet man am Grillo-Theater und läuft als nächstes am Lichtburg-Kino vorbei Richtung Dom. Sobald es dunkel wird, hat die Innenstadt etwas unheimliches. Weil die Geschäfte geschlossen sind, sind nur wenig Menschen unterwegs. Vor allem Jugendliche schlendern durch die Straßen und lassen ihre Rufe in der ansonsten stillen Innenstadt laut widerhallen. Das Licht der Straßenlaternen wirft kegelförmige Lichtflecke in die Straßen. Die Leuchtreklamen der Geschäfte setzt bunte Farbkleckse in die Umgebung.
Hat man die Lichtburg hinter sich gelassen, geht es als nächstes die Treppe am Domplatz hinunter, durch die kalten Pforten des eisernen Tors, um zum Denkmal von Kardinal Franz Hengsbach zu gelangen. In der Dunkelheit wird es seitlich angestrahlt, so dass seine Silhouette einen gruseligen Schatten wirft. Dass der Hörbeitrag dazu mit rauschendem Wind und heulenden Wölfen beginnt, verstärkt die düstere Stimmung. Eine kratzige, leicht widerhallende Männerstimme erzählt die Geschichte des ersten Kardinals von Essen. „In Deutschland werden seit einiger Zeit immer öfter Wölfe wieder heimisch. Da habe ich doch vor kurzem gehört, dass es im Zentrum von Essen einen Wolf geben soll. Kaum zu glauben, oder?", fragt die Stimme zu Anfang in die Dunkelheit.
Nach der leicht beklemmenden Atmosphäre auf dem dunklen Domplatz ist es erleichternd, auf den deutlich helleren Hauptweg zurückzukehren. Dass man nicht immer geradlinig auf der Kettwiger Straße bleibt, sondern manchmal kleine Umwege nehmen muss, ist Teil des Konzepts. Michel erklärt das so: „Meine Grundidee war, mich mit Wohnraum zu beschäftigen. Das kam bei mir durch das Spazieren während des ersten Shutdowns. Da wurde das Spazierengehen zu meinem einzigen sozialen Event. Ganz plötzlich habe ich alles mögliche entdeckt, obwohl ich schon seit 10 Jahren dort wohne."
Eine weitere Inspirationsquelle seien die Diskussionen um die Denkmäler gewesen, die im letzten Jahr im Zuge der Black Lives Matter-Bewegung entstanden sind. Auch der Austausch zwischen den Generationen habe gute Impulse gesetzt. „In unserer Probephase haben wir über Dinge wie kulturelle Wahrheit gesprochen, also was sind Dinge, an denen wir täglich vorbeilaufen und von denen wir glauben, sie zu kennen", beschreibt Michel die Proben. In den Geschichten zu den Orten vermischen sich deshalb Fakten und Fiktion. „Es wäre doch schön, wenn wir der wirklichen Welt mit unseren Geschichten eine fantastische Noten geben können", meint die Projektleiterin.
Jedes Hörstück ist unterschiedlich. „Der Alfred Krupp-Beitrag am Denkmal ist eher wie ein Radiobeitrag mit recherchierten Fakten", erzählt Michel. Man wird aber nur mit den Hörspielen belohnt, wenn auch wirklich an der richtigen Stelle steht. Ist man ein Stück zu weit entfernt, spielt die App den Hörbeitrag nicht ab. Läuft das Stück dann, weiß man manchmal nicht, wo die Fakten aufhören und die Fantasie beginnt. Zumindest lässt sich der Corona-Alltag zwischenzeitlich vergessen, auch wenn Orte wie die Diskothek Hotel Shanghai die Sehnsucht nach durchtanzten Partynächten weckt. Etwas befremdlich ist es, im Dunkeln vor den Türen des Tanzlokals zu stehen und eine leere Straße statt Partygäste in Feierlaune zu sehen.
Die weißen Drachenfiguren, die den Eingang bewachen, heben sich in der Dunkelheit vom Rest der Umgebung ab. Fröhliches Vogelgezwitscher läutet hier den sechsminütigen Beitrag mit der „Geschichte eines Dachreiters aus Beijing" ein. Als die Reise einer Dachreiterfigur aus China erzählt wird, kommt man nicht umhin, sich an die schönen Geschichten zu erinnert, die auf Theaterbühnen erzählt werden und die man coronabedingt gerade verpasst.