Jeden Abend legen Passanten an der Avinguda Gaudí den Kopf in den Nacken und zücken das Handy. Auf einer der Kirchturmspitzen der Sagrada Familia strahlt ein zwölfzackiger Stern aus Stahl und Glas. Fünfeinhalb Tonnen schwer und 7,5 Meter von Spitze zu Spitze 2leuchtet er auf dem jüngst fertig gestellten Marienturm – und das in genau 138 Metern Höhe.
Eingeweiht mit feierlichem Pontifikalamt und Volksfest am 8. Dezember, dem katholischen Feiertag Maria Empfängnis, soll der Stern der Sagrada Familia etwas von ihrer Strahlkraft zurückgeben. Denn die Pandemie hat Barcelonas Touristen-Attraktion Nummer schwer gebeutelt. Die Einnahmen sanken von 100 Millionen Euro 2019 auf 20 Millionen. Die Bauarbeiten mussten zunächst gestoppt, dann auf einen einzigen Abschnitt beschränkt werden, den der Jungfrau Maria gewidmeten Turm, den jetzt der ungewöhnliche Aufsatz ziert.
Ein Stern für mehr Strahlkraft
Eine Reiseleiterin führt eine Gruppe US-Amerikaner zum besten Foto-Spot, betont wie wichtig der Besuch der Basilika gerade jetzt ist: Ohne Eintrittsgelder kein Weiterbau. Auch auf der Webseite wird um Spenden gebeten. Seit der Grundsteinlegung 1882 wird die Sagrada Familia aus privater Hand finanziert. Das ist kein Mangel an öffentlichem Interesse, sondern Kernbestandteil der Ursprungsidee, sagt Chefarchitekt Jordi Faulí.
"Von Anfang an haben Menschen immer wieder für die Sagrada Familia gespendet, um wenigstens einen Teil des Bauwerks vollendet zu sehen. Das ist die große Vision Gaudís: Er hat zunächst die Krypta gebaut und sich dann ausschließlich der Weihnachtsfassade gewidmet, einem kleinen Teil des Bauwerks. So vorzugehen, war etwas völlig Neues. Er hat das getan, damit er, damit seine Generation einen Teil der Vollendung sieht. Etwas, was gen Himmel strebt."
Jordi Faulí ist seit 2012 zuständig für den Weiterbau der ewig Unvollendeten. Nachfragen zu Verzögerungen kontert er mit einem Schmunzeln und verweist auf ein Bonmot von Antoni Gaudí: „Mein Auftraggeber kennt keine Eile.“
Was den Bau so herausfordernd macht, erklärt Faulí am Modell. 18 Türme sollen die Sagrada Familia einmal krönen: zwölf den Aposteln gewidmet, vier den Evangelisten, einer Maria und der höchste Jesus. Jedes Bauteil muss einzeln gefertigt werden, nach komplexen mathematischen Formeln. Sie leiten sich aus den Modellen und Bauteilen ab, die Gaudí hinterlassen hat. So will man nicht nur dem Modernisme-Meister so treu wie möglich zu bleiben. Für Faulí birgt das Spiel mit Formen und Proportionen auch die eigentliche, die spirituelle Dimension des Bauwerks.
"Das Grundmodul für die Berechnung der Proportionen sind die siebeneinhalb Meter Distanz zwischen den Säulen des Seitenschiffs. Der Chor ist 15 Meter, also doppelt so breit. Das Seitenschiff ist 30 Meter, also vier Mal so hoch. Die Vierung sechzig Meter, die Apsis 75 Meter hoch – alles Vielfache der gleichen Zahl. Das Kreuz des Hauptturms wird sich auf einer Hohe von 172,50 Meter befinden. Das sind 23 Mal siebeneinhalb Meter – und immer noch etwas niedriger als der Berg Montjüic, der mit 180 Metern 24 Mal siebeneinhalb Metern entspricht. Alles ist miteinander verbunden. Alles fügt sich."
Kein menschengemachtes Werk dürfe Barcelonas Hausberg Montjüic überragen, postulierte Gaudí. Denn der sei von Gott geschaffen. Auch die schrägen Stützen, die sich gegeneinander drehen und nach oben verzweigen, folgen religiös inspirierten, mathematischen Regeln: Die strengen Linien treffen an der Kuppel kreisförmig aufeinander, als Symbol für die göttliche Unendlichkeit.
Architektur als theologischer Bedeutungsträger
Die Besucher und Besucherinnen, die in Kleingruppen durch den lichtdurchfluteten Innenraum der Sagrada Familia ziehen, sind fasziniert von solchen Erklärungen. Juanjo Lahuerta ärgert sich darüber. Der Architekt und Kunsthistoriker forscht seit drei Jahrzehnten zum Werk Antoni Gaudís. Wer sich allein auf die mystische Dimension konzentriere, verfälsche die Entstehungsgeschichte der Sagrada Familia. Gaudí konzipierte den Bau im späten 19. Jahrhundert, als sich auf Barcelonas Straßen Anarchisten und Arbeiter blutige Gefechte mit Polizei und Militär lieferten. Lahuerta deutet auf ein Figurenensemble in der Rosenkranzkapelle.
"Wir sehen hier eine Darstellung der Versuchung. Aber die Schlange beziehungsweise der Teufel verführt nicht Eva, sondern einen Arbeiter – und er reicht keinen Apfel, sondern eine Orsini-Bombe, eine Granate. Dieser Kragstein wurde gemeißelt, nachdem es in Barcelona zwei berühmte Anschläge mit Orsini-Bomben gegeben hatte: das Attentat im Liceu, dem Opernhaus, und das Attentat auf die Fronleichnamsprozession. Gaudí überträgt die Genesis in seine Gegenwart, mit einer überraschenden Eindeutigkeit. Er macht die Zeitgeschichte so zur heiligen Geschichte, inklusive des Versprechens auf Erlösung."
Das Detail zeigt, wie sehr Antoni Gaudí vom kirchlichen Denken seiner Zeit und den Ideen seiner Auftraggeber geprägt war. Die Vereinigung des Heiligen Josef, eine Laien-Vereinigung, wollte mit der Sagrada Familia einen Sühnetempel errichten: gedacht als Wiedergutmachung für die aufständischen Arbeiter, die sich gegen eine göttliche Gesellschaftsordnung rebelliert hätten. Die ersten Spenden stammten von wohlhabenden Bürgern, von Textil-Fabrikanten und Großhändlern.
"Für die herrschenden Klassen, also für die Bourgeoisie, war der Katholizismus ein Instrument, mit dem sie über Schulen, Krankenhäuser, Wohlfahrtseinrichtungen eine ganz bestimmte Ideologie verbreiten konnten: Die Gesellschaft hatte wie eine große, patriarchalisch strukturierte Familie zu funktionieren: Der Großbourgeoisie kommt dabei die Rolle des Vaters zu, der Arbeiterschaft die der Angehörigen, für die er zu sorgen hat. // Es ist die Vision einer Gesellschaft ohne Konflikte. Die Sagrada Familia war die physische Repräsentation dieser Idee."
Die katholische Kirche und der Klassenkampf
Gaudí war auch über die Kirche hinaus der Lieblingsarchitekt der Reichen und Mächtigen in Barcelona. Sie ließen sich von ihm nicht nur Wohnhäuser mit ornamentalen Fassaden verzieren, sondern engagierten den Modernisme-Meister auch für Modellprojekte jenseits der Stadtgrenzen: etwa die Colonia Güell, in der Arbeiter mit ihren Familien direkt neben der Fabrikanlage leben sollten, fernab der sündigen Großstadt, dafür aber mit eigener Kirche und Schule. Für Juanjo Lahuerta, der im Nationalmuseum für katalanische Kunst derzeit eine viel beachtete Ausstellung über Gaudí und seine Zeit kuratiert, gipfelt diese Verschmelzung von Religion und Politik in der Sagrada Familia.
"Joaquim Mirs Ölgemälde „Die Kathedrale der Armen“ zeigt die Sagrada Familia nicht nur als Kirche der gläubigen Arbeiter, sondern als Ort, an dem Bettler, Arme, eben alle, die auf Erlösung hoffen, willkommen sind. Das ist Teil einer damals initiierten Propaganda-Strategie. Gaudí ist in ihr der Meißel Gottes: Er widersetzt sich dem nicht. Im Gegenteil: Auch er ist davon überzeugt, der Auserwählte für diesen Bau zu sein. Gleichzeitig wetterte die republikanische, antiklerikale Presse gegen ihn und seine Geldgeber und zeigte ihn vor dem Bauwerk satirisch als Vertreter der Macht."
Gaudís Meisterwerk entzweit noch heute. Kopfschüttelnd bahnt sich Salvador Barroso den Weg zwischen Reisegruppen und fliegenden Händlern, die Kastagnetten und mexikanische Sombreros verscherbeln.
"Kaum ein vernünftiges Lebensmittelgeschäft gibt es mehr in der Umgebung", schimpft der Sprecher der Nachbarschaftsvereinigung des Viertels. Dazu der Verkehrslärm, die vielen Menschen, der Dreck. Am meisten aber ärgert sich Barroso aber über die Baupläne: Geht es nach der Sagrada Familia, führt irgendwann eine riesige Vortreppe zum noch nicht gebauten Hauptportal. Mehrere Häuserblöcke müssten dafür abgerissen werden, 3000 Menschen umziehen. Eine Lizenz für den Bauplan gibt es nicht, aber die hielt man auch bisher nicht für notwendig. Mit offizieller Genehmigung baut die Sagrada Familia erst seit 2019.
"Das ist die Arroganz und Überheblichkeit einer mächtigen und reichen Organisation. Aber es gibt ja in der Bibel auch diese Geschichte von David und Goliath, Sie wissen ja, wie die ausging: also Vorsicht!"
Barroso hat gegen Pläne und Baugenehmigung geklagt. Der Ausgang des Verfahrens ist offen. Was die einen als Gesamtkunstwerk bewundern, dessen besondere Ausstrahlung in ihrem theologischen Programm begründet liegt, gilt anderen als kommerzieller Kitsch oder Ausdruck von Arroganz und Macht. An diesen gegensätzlichen Lesarten der Sagrada Familia hat sich in den letzten 140 Jahren nicht viel verändert.
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